Im Namen der Demokratie und des Friedens

Der Vertrag von Lausanne

Der Vertrag von Lausanne von 1923 war der letzte von mehreren völkerrechtlichen Verträgen, mit denen nach Ende des Ersten Weltkriegs die neue Friedensordnung und die Grenzen einer ganzen Reihe neuer Staaten definiert worden sind. In den Pariser Vorortverträgen und dem Vertrag von Lausanne widerspiegeln sich nebst den Ansprüchen und Interessen der Siegermächte diverse, teils neue Prinzipien und Vorstellungen zur Ausgestaltung von Staaten und zu deren friedlichem Zusammenleben. Während einige dieser Prämissen und Ideensysteme überholt wurden, leben andere im Völkerrecht, in Institutionen oder im politischen Diskurs bis heute weiter. Der vorliegende Beitrag schildert ausgewählte, damals im Namen der Demokratie und des Friedens legitimierte Kriterien aus dem Vertrag von Lausanne. Weiter zeigt er auf, weshalb Frieden und Demokratie stetig weiterentwickelt werden müssen und wie wir im Demokratie-Turm des Polit-Forums Bern mit einem breit gesetzten Ansatz und inklusiv darüber diskutieren.

Selbstbestimmungsrecht der Völker

Eine der zentralen Leitlinien bei den Verhandlungen der Nachkriegsordnung war das von US-Präsident Woodrow Wilson wie auch von Lenin beschworene „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Wilson, der schon damals von den einen als visionärer Realist, den anderen als weltfremder Idealist kontrovers kritisiert wurde, präsentierte am 8. Januar 1918 in einem 14- Punkte Plan die amerikanischen Kriegsziele. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ findet sich nicht direkt als Begriff in seiner Rede vor dem US-Kongress vor, lässt sich aber aus deren Forderungen als Maxime ableiten. Heute wird es als eines der Grundrechte des Völkerrechts unter anderem in Artikel 1, Absatz 2 der Charta der Vereinten Nationen festgehalten.

Von Paris nach Lausanne

In der Realität schufen die Pariser Vorortverträge für 60 Millionen Menschen einen eigenen Staat, machten aber gleichzeitig 25 Millionen Menschen zu Minderheiten.

Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, 2018, S. 42

Als zweite Leitlinie stand in den Friedensverhandlungen die bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa verbreitete Doktrine des territorial, rechtlich und ethnisch möglichst klar definierten Staats mit grösstmöglicher Souveränität im Vordergrund. Nach den schrecklichen Kriegserfahrungen wurde der homogene Nationalstaat zusammen mit, beziehungsweise als Grundlage von internationalen Institutionen zur Konfliktlösung als einer der Pfeiler zur Verständigung zwischen den Staaten und der Friedenssicherung unter (und innerhalb) ebendieser betrachtet. In der Realität schufen die Pariser Vorortverträge für 60 Millionen Menschen einen eigenen Staat, machten aber gleichzeitig 25 Millionen Menschen zu Minderheiten. Den Umgang mit Minderheiten und ihr Status als Rechtssubjekt liessen die Siegermächte dabei in den Verträgen bewusst offen. Eine Alternative zu dauerhaft unzufriedenen Minderheiten brachte der Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923. Er schuf die völkerrechtliche Legitimität für einen „Bevölkerungsaustausch“ von über 1,5 Millionen Menschen, basierend auf deren Staatsangehörigkeit und Religion. Der Friede von Lausanne legitimierte somit die bereits während des Griechisch-Türkischen Kriegs erfolgten ethnischen Säuberungen und führte zu weiteren, umfassenden Zwangsumsiedlungen von griechischen und türkischen Bevölkerungen.

Ungleichbehandlung

Die (Gleich-)Behandlung der weiteren, nicht-muslimischen Minderheiten wurde im Abschnitt zum Minderheitenschutz (Artikel 37-45) des Vertrags von Lausanne formalisiert und damit von der neuen Türkei garantiert. Während die jüdische, armenische oder die verbleibenden griechischen Bevölkerungsteile im Vertrag explizit Erwähnung fanden, wurden beispielsweise die Kurd:innen, Assyrer:innen und Aramäer:innen nicht als Minderheiten berücksichtigt. Die Ungleichbehandlung und die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für diese Minderheiten führen weiterhin zu gewalttätigen Konflikten.

Schlussfolgerung

Zusammenfassend war die neue, unter anderem durch den Vertrag von Lausanne geschaffene Staaten- und Weltordnung Ergebnis, aber auch Antrieb für einen ethnischen Nationalismus. Sie stellte gleichzeitig keine Lösung für die schon länger so lebhaft diskutierte Nationalitätenfrage dar. Das Selbstbestimmungsrecht blieb aufgrund der Interessen und weiterhin imperialistischen Ansprüche der Siegermächte gerade im Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reichs für zahlreiche „Völker“ toter Buchstabe. Die Territorien der Nationalstaaten sind bis heute umkämpft. Die griechisch-türkischen Grenzstreitigkeiten stellen nur eines von vielen Beispielen dar. In der Friedenssicherung und im Umgang mit Minderheiten besteht folglich kein Geheimrezept, vielmehr bleiben sie omnipräsente Herausforderungen, deren Lösungen umso besser werden, je mehr Menschen sich daran beteiligen können. Der im September 2022 vom Polit-Forum Bern eröffnete Demokratie-Turm bietet hierzu allen Raum für Diskussionen, Dialog und Austausch und macht das Thema Demokratie erlebbar. Dabei sind für das Verständnis der Demokratie drei Fragen zentral: Wer ist dabei? Wie kommen Themen auf die politische Agenda? Wie entscheiden wir gemeinsam? Diese Fragen laden ein, Demokratie zu entdecken, sich zu vertiefen und auszutauschen, mitzudiskutieren und mitzugestalten.

Historisches Wissen

Der Minderheitenschutz bleibt folglich auch heute und in unserer Demokratie umstritten.

Lukas Hupfer, Leiter Polit-Forum Bern

Historisches Wissen – gerade aus der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs – spielt dabei eine wichtige Rolle. Es wird oft vergessen, wie jung unsere Demokratie ist und dass sie nie vollendet ist. Die simple Frage „Wer ist dabei (und wer ist ausgeschlossen)?“ beschäftigt unsere Demokratie und unser Zusammenleben tagtäglich. Hauptsächlich sozioökonomisch bedingt bleiben viele Menschen den Wahlen und Abstimmungen fern und ein wachsender Teil der Bevölkerung verfügt erst gar nicht über politische Rechte. Die bald 175-jährige Geschichte des Schweizer Bundesstaats ist ferner von einseitigen Einschränkungen von Rechten und Freiheiten gezeichnet, die wiederholt und gegen den Willen der Behörden vom Stimmvolk in die Verfassung geschrieben worden sind. So wurde beispielsweise mit der ersten Schweizer Volksinitiative überhaupt 1893 das Schächtverbot eingeführt. Die nötigen Mehrheiten erreichten ferner die Volksinitiativen für ein Minarettverbot (2009) und ein Burka-Verbot (2021). Der Minderheitenschutz bleibt folglich auch heute und in unserer Demokratie umstritten. Ebenso geht der Kampf um Souveränität (an der Peripherie) Europas weiter. Die entstehende Sowjetunion verweigerte 1919 der Ukraine das Recht auf einen eigenen Staat und 100 Jahre später greift Putin erneut militärisch und völkerrechtswidrig nach der Konkursmasse des ehemaligen Zarenreichs, welches wie das Osmanische Reich als eines der vier multinationalen Kontinentalreiche im Ersten Weltkrieg seinen Zusammenbruch fand.

Ausstellung im Polit-Forum Bern

Quellen

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Lukas Hupfer

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