Religion: Ort des Glaubens und der Kirche. Ein ambivalentes Konstrukt. Eine Realität, die der totalen Kritik des Evangeliums unterworfen ist. Für den Protestantismus ist sie ein bisschen von all dem. Wer die Verbindung zwischen Religion und Kirche herstellt, navigiert durch stürmische Gewässer. Eine Karte kann dabei hilfreich sein – selbst wenn es nur ein Entwurf ist.
Eine etwas seltsame Frage, das gebe ich zu. Die protestantische Kirche hat natürlich etwas mit Religion zu tun. In der Schweiz gehört sie zu den «Religionsgemeinschaften», die vom Staat als öffentlich-rechtliche Institutionen anerkannt sind – mit Ausnahme der Kantone Neuenburg und Genf. Die protestantische Kirche befasst sich mit der Religionszugehörigkeit der Mitglieder der Gesellschaft. Sie nimmt aktiv am interreligiösen Dialog teil – manchmal ist sie sogar eine wichtige treibende Kraft in diesem Dialog. Es ist also offensichtlich: Die protestantische Kirche hat etwas mit Religion zu tun.
Aber so einfach ist es nicht. Es wäre genauer zu sagen, dass der Protestantismus eine Hassliebe mit dem Thema Religion verbindet und dass es nicht unbedingt selbstverständlich ist, dass die Kirche mit «Religion» in protestantischer Perspektive in Verbindung gebracht wird.
In diesem Beitrag möchte ich eine Karte dieser widersprüchlichen Perspektiven rund um die Religion im Rahmen des Protestantismus skizzieren. Um es kurz zu sagen: Der Konflikt dreht sich um folgende Frage: Ist es legitim oder nicht legitim, den Begriff «Religion» als Bezugshorizont zu verwenden, um die Existenz der Kirche und des Glaubens in der Welt zu denken und zu verorten? Die geschlossene Frage zielt natürlich darauf ab, Perspektiven aufzuzeigen. Die Wirklichkeit liegt irgendwo in der Mitte.
Im 19. Jahrhundert spielt der Begriff «Religion» in der Diskussion der protestantischen intellektuellen Eliten eine zentrale Rolle. In Anlehnung an die Idee einer «natürlichen Religion», die im 18. Jahrhundert entstand wird der deutschsprachige Protestantismus die Form und den Status des Christentums in einer Zeit, die von der Entstehung der Nationalstaaten, dem Kampf um Demokratie und Grundfreiheiten, der industriellen Revolution, der Kolonialisierung und der Mission geprägt ist, anhand einer Theoretisierung der Religion überdenken. Auf der Grundlage dieser erneuerten Einschätzung dessen, was Religion ist, wird man unter anderem die Grenzen der kirchlichen Organisation bestimmen wollen.
Diese Bemühungen, die vor allem mit dem Namen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) verbunden sind, haben im europäischen Protestantismus einen enormen Erfolg und prägen ihn über den deutschsprachigen Raum hinaus. In Frankreich und der Schweiz führte sie insbesondere zur Einrichtung von Lehrstühlen für Religionsgeschichte und -psychologie. Das Werk eines Auguste Sabatier (1839-1901) ist Teil dieser Bewegung. Er gehört zu dem, was man damals als Neoprotestantismus oder liberalen Protestantismus bezeichnete. Sie geht insbesondere mit der Entwicklung eines wissenschaftlichen Ansatzes für die Religion einher: Religion ist ein Phänomen, das Teil der menschlichen Erfahrung ist. Sie kann beobachtet und beschrieben werden.
In dieser protestantisch-liberalen Konstruktion von Religion lassen sich gemeinsame Züge erkennen: «'Religion' ist individueller Bewusstseinsvollzug, mag emotionale Anteile haben, impliziert die sinnhafte Deutung von Geschichte und zielt auf moralische Praxis in einem ethisch strukturierten Sozialzusammenhang» (H. Matern, 2021, 13) In diesem Religionsverständnis verbinden sich sowohl Elemente aus dem Pietismus – die Betonung des persönlich-individuellen Charakters des Glaubens – als auch Elemente aus der Aufklärung – die Betonung eines rational-empirischen Zugangs zur Wirklicheit und Normativität. Die Bezugnahme auf die Religion konkurriert mit der Autorität der konfessionellen Texte und der auf sie gestützten Dogmatik. Er richtet auch die Herangehensweise an den biblischen Text neu aus: Die Schriften sind Träger einer Religion, die es mithilfe der Exegese auszugraben gilt.
Dieser protestantische Ansatz zur Religion ist auch heute noch weitgehend aktiv, wenn auch in veränderten Versionen im Vergleich zum 19. Jahrhundert: Die empirische Wende in der Praktischen Theologie bedeutet eine verstärkte Wahrnehmung einer Praxis die als "religiös" gedeutet wird – sie arbeitet mit psychologischen, anthropologischen, ethnologischen und soziologischen Ansätzen zur Religion oder mit Ansätzen aus den Sozialwissenschaften. Viele protestantische Theologinnen und Theologen vertreten das die Geltung der christlichen "Lehre" (systematische Theologie, Dogmatik, Ethik) im Rahmen einer Religionstheorie reflektiert sein soll. Die Kirchengeschichte versteht sich als ein Teilbereich der Geschichte der christlichen Religion. Etc.
Aus gesellschaftlicher und rechtlicher Sicht hat diese protestantisch-liberale Position das Spiel gewonnen. Die Struktur des liberalen Rechtsstaats, der den Schutz der Grundfreiheiten – von denen die Gewissensfreiheit ein Schlüsselelement ist – garantiert, entspricht dem Individualismus des Glaubens und dem Moralverständnis des liberalen Protestantismus. Die Säkularisierung der staatlichen und öffentlichen Instanzen einerseits und die Organisationsfreiheit der Religionsgemeinschaften (die ursprünglich als religiöse Gesellschaften gedacht waren) andererseits finden in der liberalen protestantischen Perspektive auf die Religion eine starke Unterstützung. Die zeitgenössische Form des Religionsrechts ist in ihrer Entstehung solidarisch mit dieser protestantisch-liberalen Perspektive.
Der liberale Protestantismus des 19. Jahrhunderts motiviert die Entwicklung einer Religionswissenschaft und Religionsgeschichte – sie erweitert den Kanon der theologischen Disziplinen und soll sogar an die Stelle der Theologie in ihrer traditionellen Form treten. Soziologie, Psychologie und Anthropologie werden sich unter anderem um den Ansatz der Religion herum strukturieren. Der liberale Protestantismus des 19. Jahrhunderts neigte dazu, das protestantische Christentum als die vollendete Form der Religion zu betrachten.
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begann man sich der unüberwindbaren Relativität historischer Phänomene und der Verzerrungen bewusst zu werden, die die protestantisch-liberale Perspektive in die Herangehensweise an die Religion einbrachte. Aufgrund der Anhäufung von Daten und kulturellem Material wird die Vorstellung von einer historischen Entwicklung, die die Menschheit zum protestantischen Christentum führt, zunehmend brüchig. Ernst Troeltschs Werk ist ein gutes Beispiel dafür: Inmitten der Krise des Historismus sah er sich mit der wachsenden Kluft zwischen der Inkommensurabilität der historischen Kontexte und dem Anspruch der Universalität protestantischer Werte konfrontiert. In seinen letzten Vorlesungen, die er 1923 in London hielt, wurde die Perspektive einer Universalgeschichte pluralistisch gefärbt. (Vgl. Fünf Vorträge zur Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland, KGA 17, De Gruyter, 2006).
In der Folge läuteten kritische Perspektiven aus den Religionswissenschaften das Ende der (krypto-)protestantischen Hegemonie über die wissenschaftliche Erforschung der Religion ein. Postkoloniale Perspektiven betonen insbesondere, wie sehr die europäische Perspektive auf Religionen (insbesondere die Perspektive auf die «Weltreligionen») einzigartige kulturelle Realitäten völlig verdreht hat: Das Beispiel des Hinduismus spricht für sich. Der zeitgenössische Hindu-Nationalismus (Hindutva) wäre ohne die westliche Vorstellung von einer Religion der Hindus (Hinduismus), die alle Vorstellungen und Praktiken des Subkontinents unter ihrem Hut vereinen würde, nicht entstanden.
Dies hat zu einer tiefgreifenden Veränderung des Status von Religion aus wissenschaftlicher Sicht geführt. Jede Annäherung an «Religion» setzt eine Arbeitsdefinition voraus, die sich im Laufe der Untersuchung ändern muss. Ihre Gültigkeit kann auf der Grundlage der Forschungsergebnisse widerlegt werden. Es gibt keine allgemeingültige Definition von Religion, sondern nur eine Vielzahl von Definitionen, die nur aufgrund ihrer heuristischen Relevanz gültig sind. Dieser Ansatz hat sich mittlerweile in der Forschung durchgesetzt und führt unter anderem dazu, dass man einen kritischen Blick auf die Art und Weise wirft, wie Religion üblicherweise innerhalb der Gesellschaft – insbesondere im Recht – definiert wird.
Wenn man eine Gruppe, eine Art von Aktivität, eine Form von Wissen oder sogar einen einzelnen Text als 'Religion' betrachtet, fügt man sie in ein größeres hierarchisches System ein, mit Folgen, die je nach dem Willen der klassifizierenden Person positiv oder negativ sein können.
Nicolas Meylan, Qu'est-ce que la religion (Was ist Religion), Labor et Fides, 2019, S. 19
Diese Wahrnehmung hat sich auch in der protestantischen Diskussion festgesetzt. Religion kann nur durch besondere Perspektiven angegangen werden. Dies stellt zum Teil die universalistische Perspektive auf die Religion in Frage, die vom liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts und den von ihm hervorgebrachten Institutionen getragen wurde. Auch einige Entwicklungen auf Seiten der protestantischen Missionswissenschaften gehen in diese Richtung.
Die Interpretation des Christentums – dessen, was seine Tradition trägt – anhand des Begriffs «Religion» findet innerhalb des Protestantismus eine weitere Quelle des Protests. Dieser Protest ist von Beginn einer Theoretisierung der Religion an vorhanden – zum Beispiel in den Werken des konservativen Theologen Wilhelm Löhe (1808-1872). Eine besonders scharfe und epochale Form findet er jedoch in der Kritik von Karl Barth (1886-1968) an der liberalen Theologie seiner Zeit. Dieser bestreitet, dass die «Religion» als Grundlage für theologische Arbeit, Gestaltung des christlichen Lebens oder für die Organisation der Kirche dienen kann. Stattdessen weist er auf die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus hin: das Wort Gottes».
Diese Perspektive wird die protestantische Theologie nachhaltig prägen und bleibt nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt – sie erfährt auch im französischsprachigen Protestantismus eine bedeutende Rezeption die weithin prägend ist. Der christliche Glaube, das Evangelium oder die Kirche artikulieren eine religionskritische Perspektive und sind nicht mit ihr gleichzusetzen. Aufgrund seiner Grundlage im Wort Gottes wird der christliche Glaube immer eine kritische Distanz und Abweichung von den historischen Konstruktionen, die als «Religion» bezeichnet werden, aufweisen.
Darin liegt der Nährboden für eine Kritik an einer Sicht der Wirklichkeit, die auf der Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen sowie den dazugehörigen Produkten (einer Hierarchie, Riten oder einer Priesterkaste) beruht. Die Ausrichtung der praktisch-theologischen Arbeit auf die «Kommunikation des Evangeliums» (Christian Grethlein) statt auf die Religion ist Teil dieser kritischen Perspektive: Dieses Paradigma ermöglicht es unter anderem, die diakonische Tätigkeit der Kirche besser zu würdigen.
Der kritische Unterschied zwischen «christlichem Glauben» und «Religion» ist ein grundlegendes Element der zeitgenössischen protestantischen Ekklesiologie. Das Nachdenken über die Grundlage und den Zweck der Kirche artikuliert sich nämlich nicht in den Begriffen einer Religionstheorie, sondern ausgehend von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Religion kann durchaus ein Aspekt der Existenz der Kirche sein, ist aber nicht ihr Haupt- oder Gründungsreferenzrahmen. Dies gilt sowohl aus dogmatischer Sicht (vgl. die texte der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Leuenberger Konkordie 1973 und Die Kirche Jesu Christi 1994) als auch für das Kirchenrecht. Wie in den Principes Constitutifs de l'Église Évangélique Réformée du Canton de Vaud (Verfassungsgrundsätze der Église Évangélique Réformée du Canton de Vaud) dargelegt wird :
Die evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Waadt hat als einzige Autorität Jesus Christus, den Sohn Gottes. Mit der Bibel erkennt sie ihn als Retter und Herrn der Menschheit und der Welt an. In ihm findet die Kirche ihre Grundlage und ihren Sinn.
Dieses kritische und eigene Element der Kirche kann sich auch mit emanzipatorischen Perspektiven verbinden: Soziales Christentum, Befreiungstheologie, bestimmte feministische, queere, postkoloniale, subalterne oder ökologische Perspektiven finden in der Bekräftigung der Herrschaft Jesu Christi die Quelle für ihr eigenes transformatorisches Engagement, insbesondere gegenüber religiösen Strukturen, die den Status quo aufrechterhalten.
In der Einleitung habe ich gesagt, dass es darum geht, durch die stürmischen Gewässer der Beziehungen zwischen Kirche und Religion navigieren zu können. Wie sieht es mit diesem Kartenentwurf aus?
Für die erste Perspektive ist die Interpretation der kirchlichen Realität vor dem Hintergrund des Begriffs «Religion» eine Notwendigkeit. Der Weg über die Religion zielt auf ein Verständnis des christlichen Glaubens und der Kirche ab, das frei von jeglichem Autoritarismus ist. Genau genommen geht es bei dieser Perspektive weniger um den Begriff «Religion» als solchen, sondern vielmehr darum, einen Blickwinkel einzunehmen, der es ermöglicht, die Inhalte des christlichen Glaubens aus dem Bereich der menschlichen Erfahrung und nicht nur aus doktrinären Formeln heraus zu interpretieren.
Für die zweite Perspektive wird es darum gehen, das Unternehmen, die Kirche von der Religion her zu interpretieren, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dient der Begriff «Religion», der in Bezug auf die Kirche oder den Glauben konstruiert wird, einem hegemonialen Projekt, das keinen Platz für Unterschiede lässt, oder bleibt er aufmerksam für die Besonderheit der eingenommenen Perspektive?
Die dritte Perspektive besagt, dass «Religion» zwar ein Aspekt der Kirche oder des Glaubens sein kann, dass diese aber in erster Linie vom Evangelium Jesu Christi her gedacht werden müssen. Es gibt also immer eine kritische und konfliktreiche Distanz zwischen dem, was zum Evangelium gehört, und dem, was zur «Religion» gehört.
Die verschiedenen Perspektiven, die ich bisher durchlaufen haben, erschöpfen natürlich nicht das Spektrum der Möglichkeiten. Das ist auch nicht das Ziel. Diese kurze Fahrt auf der Karte soll ein Spektrum an Fragen rund um die Verbindungen zwischen Kirche und Religion entfalten: z. B. im Rahmen des interreligiösen Dialogs, der Anerkennung von Religionsgemeinschaften oder der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung. Die Herausforderung besteht darin, in diesen Gewässern navigieren zu können und, falls man an einem Ufer strandet, zu wissen, mit welchen Fragen man konfrontiert werden könnte.
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