Rede zur Jubiläumstagung der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS anlässlich 50 Jahre Leuenberger Konkordie

«Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen» – Die ethisch-politische Diskussion in der Migrationsthematik

I.

Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin Famos,

verehrte Teilnehmende an dieser Jubiläumstagung,

liebe Geschwister aus der Ökumene!

«Suchet der Stadt Bestes»: Dieses Bibelwort aus dem Buch des Propheten  Jeremia haben Sie Ihrer Tagung vorangestellt.

„Suchet der Stadt Bestes“:

Heute Morgen möchte ich Sie für kurze Zeit aus Bern in eine andere Stadt versetzen. Ich locke Sie ins Herz des Ruhrgebiets in Nordrhein-Westfalen, auf den ehemaligen Förderturm der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen. Auf der Zeche Nordstern wurde einst Steinkohle abgebaut – wesentlicher Energieträger für die Industrie im Ruhrgebiet und darüber hinaus.

Manche von Ihnen wissen vielleicht: Blau-weiß, das ist Schalke und leider erneut zweite Liga; rund 14% sind in Gelsenkirchen ohne Arbeit; man hat dort fünf Jahre weniger durchschnittliche Lebenserwartung als im kaum 40 km entfernten Münster, und es gibt noch rund 30% Evangelische. Nur noch. Immer noch!

Mein mehrtägiger Besuch im Kirchenkreis Gelsenkirchen liegt inzwischen einige Monate zurück, und er gibt mir bis heute zu denken: über meine Kirche, über unser Land und seine Leute und seine Christenmenschen mittendrin. Einige unseres Besuchsteams meinten im Rückblick, wir hätten in Gelsenkirchen einen exemplarischen Blick in die Zukunft der Kirche getan. Wenn dem so ist, dann lässt das auf eine zwar deutlich kleinere und schwächere, jedoch weiß Gott keine kraftlose und marginale Zukunft schließen.

Die vier Tage in Gelsenkirchen begannen bei einem echten Schwergewicht: 23 Tonnen wiegt die Herkules-Statue des Künstlers Markus Lüpertz, hoch oben auf dem Förderturm der Nordstern-Zeche. Man fragt sich: Wie ist die dahin gekommen, achtzig Meter hoch? Einfach war das sicher nicht. Da steht also dieser Herkules mit seiner Keule, blickt über die Stadt und weit darüber hinaus. Sein einst blaues Haar, sein einst blauer Bart sind grau geworden. Vielleicht, weil Helden besonders schnell altern. Jedenfalls ist dieser Herkules ein sichtlich gebrochener Held. Der rechten Hand fehlt der Apfel, den sie auf klassischen Darstellungen trägt. Sie greift ins Leere. Und der Keule an des Helden linker Seite fehlt der Arm, der sie schwingen sollte. Der Gute hat die Keule auf einer Schildkröte abgestellt.

Der Kerl sieht aus, als gehe es hier eher langsam voran, mit halber Kraft und mit „appenem Lack“, wie man im Ruhrgebiet sagen würde. Aber immerhin mit Überblick über Stadt und Region.

Da steht er, dieser arme Held, der den sprichwörtlichen „Herkulesaufgaben“ ihren Namen gegeben hat. Und schaut hinunter auf die Bleckkirche, wo damals die Reformation eingeführt wurde. Heute liegt das Kirchlein derart eingeklemmt zwischen zwei Autobahnzubringern, dass kaum noch jemand hinfindet. Nach der anderen Seite schweift sein Blick zur Bochumer Straße, wo sämtliche Tiefen menschlicher Lebenslagen zuhause sind.

Mag sein, dieser Herkules erinnert sich bei seiner Schau über die Ruhrregion an einstige Heldentaten: wie er die neunköpfige Hydra enthauptet, den Erymanthischen Eber gefangen und den Kretischen Stier gebändigt hat. Und – nicht zu vergessen – den Augiasstall ausgemistet. Ein Kinderspiel, scheint er zu denken, gegen das, was jetzt dran ist.

Aber er traut sich nicht, wehleidig von da oben herab zu jammern. Denn da unten heißt die klare Devise: „Jammern hilft nicht. Machen!“

Einfach machen! Das macht man, wenn nichts einfach ist.

Dieser bodenständigen, gar nicht larmoyanten und überhaupt nicht naiven Haltung bin ich dort in Gelsenkirchen häufig begegnet. Sie geht mir nach: im Blick auf unser Land, seine Leute und die Christenmenschen mitten darin – und im Blick auf eine Welt voller Widersprüche.

Von Problemen, neben denen jede Herkulesaufgabe als läppisches Kinderspiel erscheint, haben wir in unserer Gesellschaft mehr als genug. Und sie werden kein bisschen kleiner, wenn wir sie – wie es derzeit Mode ist – „Herausforderungen“ nennen. Das griechische Wort „πρόβλημα“ heißt Klippe, Vorsprung, Vorgebirge. Solche Klippen, eher ganze Gebirge voller gefährlicher Felsvorsprünge – sind unsere ganz persönlichen, existenziellen Fragen, die sich am Anfang und am Ende des Lebens stellen, die Friedensfrage, die Klimafrage, die soziale Frage, die Bildungsfrage, die Demokratiefrage, und dann eben auch die Fragen, die hier im Zentrum stehen sollen, die Fragen nach Flucht und Migration, nach Aufnahme und Willkommen.

Angesichts all der Herkulesaufgaben, die Europa, die unsere Gesellschaften, unsere Generation zu stemmen haben, brauchen wir den Mut, auch dann zu machen, wenn wir noch keine großen – geschweige denn „die richtigen“ – Lösungen wissen.  Ja sogar dann, wenn wir wissen: Es gibt gar keine Lösung in dem Sinne, dass das Problem irgendwann fertig und abgehakt sein wird. Der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag in Nürnberg in diesem Jahr hat ganz viel von solchem Mut ausgestrahlt. Es ist ein tief gegründeter Mut, der seinen Ursprung in der Ansage Jesu hat: „Jetzt ist die Zeit“. Die Zeit, in der Gott mitten unter uns ist; die Zeit zu hoffen und zu machen. Die Zeit umzukehren und es anders zu wagen.  

II.

Übrigens ist „einfach machen“ das Gegenteil von „sich´s einfach machen“. „Einfach machen“, das heißt nicht drauflos wurschteln, ohne Konzept, ohne Sinn und Verstand. Ich meine vielmehr jene Beherztheit, die mit dem Halbfertigen beginnt und nicht darauf wartet, dass alles von A bis Z ausbuchstabiert ist. Ich meine den beharrlichen Mut und das zuversichtliche Gottvertrauen, schwach anzufangen – aber eben anzufangen. Und ich meine die Stärke, die darin liegt, gelegentlich auch Schwäche einzugestehen.

Die Menschen, mit denen wir in Gelsenkirchen sprachen, widerstehen der Versuchung, die kleinen Schritte und Initiativen zu verachten. Wir kennen alle die Fragen solcher Versuchung: „Was soll das bringen?“, „Was nützt es, für diese paar Menschen so viel Aufwand zu betreiben?“, „Was macht diese kleine Aktion schon für einen Unterschied bei den vielen riesigen Problemen?“

Die Antwort, mit der die Engagierten widerstehen, ist schlicht: „Für diejenigen, die es betrifft – für die macht es einen großen Unterschied, einen gewaltigen sogar!“

Zum Beispiel für die Kinder aus Rumänien und Bulgarien, aus Syrien und der Türkei, die rund um die Ückendorfer Straße leben – die meisten wohl mehr schlecht als recht und auf engstem Raum – und ins La Palma gehen. Der Name verspricht ihnen nicht kanarische Sonne, Palmen und Urlaubsgefühle. „Barte Palma“ bedeutet auf Rumänisch so viel wie „High Five“. Damit begrüßen sich viele Kinder und Jugendlichen im Stadtteil. La Palma verspricht ihnen: Hier seid ihr willkommen. Ich habe sie gefragt, warum sie kommen: „Weil die so lieb zu uns sind“, antwortete ein Mädchen. Und ein Junge murmelte etwas verlegen: „Hier schreit dich keiner an, wenn du Mist gebaut hast.“

In den Debatten der vergangenen Wochen über die großen Fragen der Migrationspolitik musste ich oft an das „La Palma“ denken – und an die wunderbar beharrlichen Menschen dort. Das „La Palma“ ist ein Projekt, für das es eine fabelhafte Idee gibt, Mitarbeitende mit Herzblut, den Mut des Anfangens gibt - und: nicht die Mittel und nicht die personelle Ausstattung, die es benötigen würde und die es unbedingt verdient hat. Für die Kinder und ihre Familien ist es ein riesengroßer Unterschied, ob es dieses ehemalige Ladenlokal gibt oder nicht. Dieser Ort ist ein Segen für sie.

Wir sind ein Land mit einer außerordentlich starken Zivilgesellschaft:

Eine große Mehrheit der Bürger*innen sehnt sich danach, nicht zuerst als bequem, sondern als mitverantwortlich wahrgenommen zu werden, weil sie sich tagtäglich engagieren und Verantwortung übernehmen.

Der Streit um die Migration, so heißt es oft, sei ein Streit zwischen Idealisten und Realisten: Die einen wollen aller Welt helfen, die anderen sehen ein, dass dies (leider) nicht geht. Dagegen halte ich die besorgte Frage: Wie realistisch ist eigentlich die Vorstellung, wir könnten uns die Wirklichkeit einer Welt, die angesichts globaler Konflikte und Kriege und einer gerade erst abzeichnenden Klimakatastrophe ächzt, effektiv vom Halse halten? Wie realistisch ist eigentlich die Idee, wir müssten, wenn auch notgedrungen und zähneknirschend, die Rechte von Schutzsuchenden einschränken und könnten dabei zugleich ein weltoffener Kontinent und eine weltoffene Gesellschaft bleiben? Wie realistisch ist es, dass wir unsere eigene Humanität behalten, wenn wir die Würde und die Rechte von anderen Menschen verletzen?

Als Kirche, die im Licht des Evangeliums unterwegs ist, können und wollen wir uns – gemeinsam mit zahlreichen anderen zivilgesellschaftlichen Institutionen – nicht zufrieden geben mit dem, was die Europäische Union auf Regierungsebene als einen verheißungsvollen Neuansatz in der gemeinsamen Migrationspolitik bezeichnet.

Über der Kritik an der Wendung, die Europa derzeit in der Flüchtlingspolitik vollzieht, vergesse ich keineswegs das großartige Engagement unseres Landes und unserer Kommunen bei der Aufnahme von Geflüchteten, vor allem von Frauen und Kindern aus der Ukraine. Dankbar habe ich wahrgenommen, dass der Bundesrat der Schweiz den Schutzstatus für Geflüchtete aus der Ukraine gerade verlängert hat. Die Evangelische Kirche in Deutschland wird – wie bereits 2015 und seither durchgängig – auch weiterhin in Deutschland eine verlässliche zivilgesellschaftliche Partnerin humaner Migrationspolitik sein.

Vor kurzem waren wir mit einer Delegation des Rates der EKD in Brüssel und hatten dort intensive Gespräche mit Verantwortlichen in der Europapolitik. Mich hat die hoch reflektierte Besonnenheit derer, die da beharrlich vermitteln und umsichtig agieren, mit größtem Respekt erfüllt.

Da gibt es ein ernsthaftes Bemühen und ein leidenschaftliches Ringen darum, die EU in den großen Fragen unserer Zeit zusammenzuhalten und zusammenzuführen. Und gewiss wird sich dabei nicht alles, was Menschen in Deutschland meinen und für richtig halten, auch für alle anderen europäischen Partner verbindlich machen lassen. Ich habe Hochachtung vor allen Menschen, die derzeit politische Verantwortung tragen. Bitte verstehen Sie meine kritischen Anfragen nicht als wohlfeile Besserwisserei oder moralische Keule. Sie sind der Versuch, verantwortlich mitzudenken, wie es sich für uns als Kirche als Teil der Gesellschaft gebührt.

Mit vielen anderen teile ich den Eindruck: Die Europäische Union ist dabei, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Migrationspolitik zu einigen. Ich muss es tatsächlich so hart formulieren. Europa versteht sich selbst als Hort grundlegender Menschen- und Freiheitsrechte und sieht sich nicht in der Lage, diese Rechte anders zu gewähren? Nun sollen also tatsächlich diejenigen, die diese Rechte suchen, tausendfach in geschlossene Grenzlager kommen, unschuldige Menschen, Familien und Kinder hinter Gitter?

Viererlei ist für mich in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung:

1. Unsere Aufgabe als Kirche und zivilgesellschaftlicher Akteur ist, mit dafür Sorge zu tragen, dass wir eine Debatte in einer sachlichen Tonalität führen bzw. dahin zurückkehren. Der entsetzliche, oft menschenverachtende Ton in der Debatte um Menschen auf der Flucht – egal, was sie zur Flucht veranlasst hat – ist unerträglich. Wir als Kirche erinnern immer wieder daran, dass es um Menschen geht – Menschen, die sind wie Du und ich; zu Gottes Ebenbild geschaffen; mit unverlierbarer Würde ausgestattet; Menschen wie Jesus von Nazareth, in dem Gott selbst Mensch unter Menschen wurde, einer von uns.

2. Diese sachliche Tonalität bedeutet auch: bei der Wahrheit zu bleiben und Fakten nicht zu verdrehen. Falsche Behauptungen wider besseres Wissen zerstören den Zusammenhalt. Tatsächliche Probleme und dringliche Aufgaben gilt es zu sehen, ernstzunehmen und zu benennen. Am 12. September dieses Jahres sind innerhalb eines Tages 101 Boote mit etwa 5.000 Menschen auf der kleinen Mittelmeerinsel Lampedusa angekommen. Insgesamt kamen in diesem Jahr bereits mehr als doppelt so viele wie im selben Zeitraum des vorigen Jahres.
Angesichts der zahlreichen weltweiten Konflikte, die einander derzeit überlappen, angesichts der Umweltkatastrophen und der zunehmenden Klimakrise, angesichts der wachsenden Armut kann uns kaum überraschen, dass immer mehr Menschen weltweit aus ihrer Heimat fliehen. Manche kommen bei uns an. Hier spreche ich von denen, die den Weg über das Meer überlebt haben - anders als Tausende, die in den letzten Jahren ertrunken sind! Noch immer und immer schmerzlicher fehlt eine humane Antwort Europas auf das Sterben im Mittelmeer. Ja, und die offenkundige Abwehrhaltung in Europa führt mittlerweile zu Verhaltensweisen, die mit Rechtsstaatlichkeit nicht zusammenzubringen sind: Pushbacks und Gewalt gegen Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU; unterlassene Hilfeleistung sowie Behinderung und Kriminalisierung der humanitären Rettungsorganisationen.

Wer wir sind und was uns unsere so genannten „Werte“ wert sind, beweist sich an den Grenzen unseres Kontinents. Das zeigen wir auch und gerade im Umgang mit Geflüchteten. Ich weiß, dass die viele Städte am Limit sind, dass Geld und Unterbringungsplätze fehlen. Ich weiß auch, dass wir die Zuwanderung demokratieverträglich gestalten müssen; dass Integration eine enorme Aufgabe und Herausforderung ist. Doch Abschottung und eine Rhetorik, die Angst verbreitet, spielen denen in die Hände, die Probleme bewirtschaften wollen, statt sie zu lösen. Die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen in Deutschland und die nun verschärfte Debatte um eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen in der deutschen Politik verfolge ich mit großer Sorge. Und diese Sorge wird nicht kleiner, wenn ich wahrnehme, dass sich auch in anderen Gesellschaften Europas die Debattentöne verschärfen und dass auch woanders der politische Trend immer weiter nach rechts rutscht. 

3. Es gibt nicht die eine Lösung, aber es gibt Ansätze und kreative Überlegungen, wie unsere Gesellschaften besser mit dieser Aufgabe umgehen könnten. Deutschland braucht Zuwanderung und Arbeitskräfte, wenn unser Alltagsleben funktionieren und die Wirtschaft zukunfts- und wettbewerbsfähig bleiben soll. Warum nicht legale Migration auf sicheren Wegen ermöglichen in Abkommen mit Ländern, aus denen es junge Menschen wegen mangelnder Perspektiven wegzieht? Warum sprechen wir nicht darüber, Ausbildungs- oder Umschulungsplätze in Deutschland und in der EU anzubieten?

Oder: Muss ein Asylantrag unbedingt innerhalb der Europäischen Union gestellt werden? Könnte das nicht bereits viel früher und viel leichter geschehen, z.B. in Botschaften und nationalen Vertretungen, in Ländern, die von Asylsuchenden viel früher erreicht werden – ohne dass sie zuvor Wüsten und Meere durchqueren müssen und dabei Menschenhändlern und Verbrechern in die Hände fallen?

Leicht gesagt, mögen manche denken. Doch es gibt sie tatsächlich, solche handfesten und konkreten Überlegungen, anders an die Fragen von Migration und Flucht heranzugehen. Es wäre ein riesiger Gewinn für den gesellschaftliche Diskurs und vor allem für die Geflüchteten selbst, wenn die schrille Debatte aus dem unseligen Entweder–Oder Schema herausgeführt würde: Entweder weiter so wie bisher mit dem dauernden Gefühl der Überforderung – oder Europa macht seine Schotten dicht, wird zur Festung und verrät damit seine eigenen Ziele und Werte.

Und schließlich erleben wir 4. in den letzten Jahren, wie Europa an einer gemeinsamen, menschenfreundlichen, menschenrechtsbasierten Migrationspolitik scheitert. Dies unterminiert den Zuspruch zum Einigungs- und Friedenswerk, das die Europäische Union nach wie vor für uns als EKD darstellt. Wir sind dankbar für die Zusammenarbeit, für den Austausch und die Diskussionen in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Wir sind froh über die Arbeit der Kommission der Kirchen für Migrant*innen in Europa – CCME – in Brüssel, die sich beharrlich für eine andere Migrationspolitik einsetzt. Und wir halten es für wesentlich, dass unsere Kirchen an diesem Thema in Europa gemeinsam dran bleiben. Ausdrücklich unterstützen wir jede Bemühung um mehr sichere und reguläre Wege in die EU. Statt mehr Grenzschutz, Haftzentren und der Aushöhlung des Asylrechts braucht es einen verpflichtenden solidarischen Verteilungsmechanismus, der die Außengrenzstaaten im Fall von Überlastung unterstützt.

III.

„Einfach machen!“, das ist keineswegs die unverdrossene Mentalität von Menschen, die so leicht nichts umhauen kann. „Einfach machen“, das ist verflixt schwer.

Das spüren wir auch in unserer Kirche. Vielen hauptamtlich und ehrenamtlich Mitarbeitenden steht die Anstrengung ins Gesicht geschrieben und schwingt im Klang ihrer Stimme.

Die Freundlichkeit des menschgewordenen Gottes gilt allen (!) Menschen. Hasserfüllte, verletzende und respektlose Kommentare auf Äußerungen, die mir nicht gefallen; Ausgrenzung und Beschämung von Menschen, die anders sind als ich, vertragen sich nicht mit Gottes Liebe. Das sage ich ausdrücklich auch und zuerst in unsere eigenen kirchlichen Reihen hinein. Wir müssen alles dafür tun, dass alle – wirklich: alle! – Menschen unserer Liebe vertrauen können und dass Kirche ein sicherer Ort ist, an dem niemand verhetzt und verunglimpft und bedroht wird.

Der Freundlichkeit des menschgewordenen Gottes kann man auch außerhalb der Kirche begegnen. Genau dies ist ja das Verblüffende, das Peinliche und das ungemein Tröstende in so vielen Jesusgeschichten der Bibel: Ganz oft sind es diejenigen, die draußen sind, am vermeintlichen Rand und im Abseits, die besonders tief verstehen, was es mit Gott und mit Jesus auf sich hat. Manchmal tiefer als jene, die immer schon da waren und sich besonders nah dran wähnen.

IV.

Zum Schluss noch einmal kurz zurück ins Ruhrgebiet nach Gelsenkirchen. 

„Wir werden kleiner und doch größer!“, hat dort jemand fast beiläufig gesagt und damit ein paradoxes Phänomen auf den Punkt gebracht: Vieles Selbstverständliche ist längst nicht mehr selbstverständlich, da ist es gut, wenn Kirche und Diakonie einfach verlässlich da sind. Nicht für sich selbst, sondern als Stütze für die Gesellschaft und die Demokratie. 

Wir erleben und gestalten Veränderung – und ja, wir erleben und erleiden Verlust. Und wir spüren zugleich, wie wir in diesen rauer werdenden Zeiten an vielen Stellen gebraucht werden und wie sich jede Menge Möglichkeiten und jede Menge Lust einstellen, zu kooperieren, auszuprobieren und einfach zu machen.

Weiß Gott, es sind Herkulesaufgaben, die vor uns liegen. Wir sind keine Heldinnen und Helden. Wir sollten uns nicht verführen lassen, Helden zu spielen oder Heldinnen sein zu wollen. Aber wir packen es an – miteinander und mit allen anderen: mit allen Menschen guten Willens und – wie es beim Apostel Paulus heißt – mit der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist.   (2. Korinther 12,9). Sie hat Gottes Verheißung.

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Annette Kurschus

Dr. h.c.
Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und
Vorsitzende des Rates der EKD bis 2023

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