«Das Budget einer Kirche ist ein sprechender Kommentar zum Evangelium, das sie verkündet – nur allzu oft stimmt beides nicht überein!»
Ulrich Luz
Der Umgang mit dem Geld gehört zu den ältesten Themen der christlichen Ethik und im Zweiten Testament ist eigentlich erstaunlich häufig davon die Rede. Geld begegnet dort vor allem als Medium der Diakonie. Die Schere zwischen Armut und Reichtum ist (noch) keine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern eine praktisch-diakonische Herausforderung der christlichen Nachfolgegemeinschaft. Paulus verbindet die Kollekte für die Armen in 2Kor 8f. und Röm 15,25–27 mit der von Gott empfangenen χάρις (Gabe) und versteht sie «als Ausdruck der vollen, geistlich-leiblichen christlichen κοινωνία [Gemeinschaft]», die deshalb notwendig auf Freiwilligkeit beruht (2Kor 8,3.8; 9,7; Röm 15,26f.). «Diakonie in umfassendem Sinn, d. h. Unterstützung der eigenen armen ‹Arbeiter› für das Evangelium und der Armen innerhalb und ausserhalb der eigenen Gemeinde, ist in den Anfängen der Kirche die zentrale Aufgabe gewesen, welche die Geldmittel der Gemeinden und ihrer Glieder beanspruchte.» Für die urchristliche «Finanzpolitik» ist wesentlich: (1.) Die christlichen Gemeinden haben eine eigene Sozialgestalt entwickelt, die sich von dem Finanzwesen der religiösen Gemeinschaften in ihrer Umwelt unterscheiden. (2.) Der Privatbesitz der Gemeindemitglieder wird der «In-Dienst-Stellung» für die kirchliche Gemeinschaft untergeordnet. (3.) Kirchliche Mittel werden vorrangig für diakonische Aufgaben, allen voran für die Unterstützung der Armen eingesetzt. (4.) Die christlichen Wandermissionare folgen einerseits dem Armutsgebot und werden andererseits von den Gemeinden unterstützt, «sodass sie vom Evangelium leben konnten». (5.) Der Umgang mit Geld in den Gemeinden des Neuen Testaments beruht auf Freiwilligkeit.
Zugegeben, es braucht schon den unerschrockenen Blick eines fest geerdeten neutestamentlichen Genius, um die kirchlichen Finanzpolitiken damals und heute gleichzeitig auf dem Schirm zu haben. Auch Ulrich Luz war von der Aussichtslosigkeit überzeugt, sie unter einen Hut bringen zu wollen. Theologisch fatal wäre es umgekehrt, sie unter den Tisch fallen zu lassen, wie es der kirchen- und theologiegeschichtliche Mainstream getan haben, oder sie durch eine soziologisch-funktionale Sichtweise zu ersetzen, wie es seit den 1970er Jahren in den westeuropäischen Kirchen der Fall ist. Natürlich provoziert ein biblischer Blick die Interessen realexistierender steuerfinanzierter Kirchen. Aber genau darum muss es gehen, wenn die Interessen von Kirche auf dem Spiel stehen. Der Theologieprofessor aus Laupen beginnt mit einer Beobachtung: «Das Geld der Kirche und ihr Zeugnis scheinen auf verschiedenen Ebenen zu liegen. In ihrem Zeugnis richtet sich die Kirche nach dem Neuen Testament aus; in ihrem Finanzwesen zeigt die Geschichte mindestens seit dem neunzehnten Jahrhundert ‹kaum ... eindeutige Beispiele für einen prägenden Einfluss des kirchlichen Dienstes und der theologischen Reflexion auf die Gestaltung des Finanzsystems›. ‹Theologische Reflexion, soweit sie überhaupt auf die materielle Struktur der Kirche ... Bezug nimmt›, hat weithin den Charakter einer ‹nachträgliche(n) Legitimation von Entwicklungen› ökonomischer Art.»
Die Diskrepanz zwischen Verkündigung und Haushalten (oikonomia) wird traditionell harmonisiert durch die ekklesiologische Unterscheidung zwischen geglaubter Kirche und ihrer Sozialgestalt und durch die handlungstheoretische Differenzierung zwischen dem zwingenden Bekenntnisstatus (status confessionis) und den nicht entscheidenden Mitteldingen (adiaphora). Gegen solche gestuften Lösungen wendet Luz ein: «1. Zwischen der sichtbaren Gestalt der Kirche und ihrem Auftrag besteht ein unauflösbarer Zusammenhang. Die sichtbare Gestalt der Kirche gehört zu ihrem ‹Wesen›. Darum ist auch die Gestaltung des Finanzwesens der Kirche eine Aufgabe, welche die Ekklesiologie zentral betrifft. Die Reduktion der sog. notae ecclesiae auf Wort und Sakrament in der Reformationszeit ist vom gesamten Zeugnis des Neuen Testamentes her völlig einseitig und darum falsch. Ich kenne überhaupt keine neutestamentlichen Texte, in denen die sichtbare Gestalt der Kirche, das Leben und die Praxis der Kirche nicht Teil ihres ‹Wesens›, Spiegelung ihres göttlichen Auftrags, Dimension ihres Zeugnisses und Ort der Erfahrung von wirklichem ‹Heil› wäre.» Der neutestamentliche Einheitsfokus hat Konsequenzen für die Frage der Kirchenfinanzierung: «2. Von allen heutigen Modellen der Kirchenfinanzierung, die ich kenne, ist keines so weit vom Neuen Testament und damit auch von dem, was seinen Verfassern für die Kirche wesentlich schien, entfernt, wie das Modell der Kirchensteuer. […] Mit Beteiligung am Leben der Kirche, mit Engagement für sie, mit eigener gelebter Religion, mit Einsatz für die Kirche oder bewusster Bejahung ihres Auftrags hat die Kirchensteuer in der Regel nichts zu tun. Im Gegenteil: Steuern bezahlt man ja gerade für diejenigen Dinge, bei denen man sich von einer praktizierten Mitverantwortung entlasten kann: Dadurch, dass man Steuern zahlt, ist ein anderer, nämlich der Staat, für die Aufrechterhaltung gewisser Grundfunktionen des Lebens verantwortlich, z.B. für den Bau von Strassen, die Existenz von Schulen, die äussere Sicherheit etc. Zahlt man Kirchensteuern, so entlastet man sich dadurch auch von der direkten Verantwortung für Dinge, die eben Sache der Kirche sind, z. B. für die Existenz von Ritualen, für die Erhaltung der zur Heimat gehörenden kirchlichen Gebäude etc. Mit anderen Worten: Die Institution der Kirchensteuer hat eine ebenso grosse Affinität zu einer Kirche als Versorgungskirche wie Finanzierungsmodelle, die auf echter Freiwilligkeit basieren, eine Affinität zu einer Kirche als Beteiligungskirche haben.»
Ulrich Luz formulierte die Sätze nicht im ekklesiologischen Seminar, sondern vor dem Hintergrund steigender Kirchenaustritte und der sich verschlechternden Finanzsituation in seiner Laupener Kirchgemeinde. Er wurde nicht von einer Freikirche gesponsert, sondern folgte der reformatorischen Methode, die nicht im Bedarfsfall «alternative Fakten» (oder Perspektiven) erfand, sondern ihr Argumentieren, Urteilen und Handeln an den biblischen Schriften orientierte. Auch wenn der Neutestamentler nichts darüber sagt, steht im Hintergrund die theoretisch-methodische Kritik des Soziologen, dem die Kirchensoziologie ihre Begründung und Existenzberechtigung verdankt. In seiner frühen Studie Funktion der Religion bemerkt Niklas Luhmann: «Die vorausliegende Frage lautet, ob und wieweit die Kirchenleitung Mitgliederverhalten überhaupt als Entscheidung behandeln kann, wie immer sie sich dann dazu einstellt. Genau diese Grundbedingung von Organisation kann man mit guten Gründen in Zweifel ziehen […]. Vermutlich nimmt in weiten Kreisen der Mitglieder und Nichtmitglieder die Neigung zu, die Mitgliedschaft in der Kirche als eine Sache der eigenen Entscheidung anzusehen, und zwar im Widerspruch zu dogmatischen Festlegungen der Theologie, nach denen die Taufe keine eigenverantwortliche Entscheidung des Täuflings erfordert und ein Austritt im Sinne eines Verzichts auf die durch Taufe erworbene Qualität gar nicht möglich ist. […] Dass Kirchenaustritte möglich sind, gehört ohnehin zum allgemeinen Bewusstsein, schon weil Kirchensteuer und Zugang zu den Kasualien davon betroffen sind.» Die Spannung zwischen der organisatorischen Konstruktion von Zugehörigkeit im Sinn der grundsätzlich freien und selbstbestimmten Mitgliedschaft auf der Grundlage persönlicher, funktionaler und Nutzenerwägungen einerseits und dem ekklesiologischen Verständnis von den Konstitutionsbedingungen von Kirche andererseits, lässt sich weder auflösen noch ausblenden. Wolfgang Lienemann fragt: «Vielleicht aber ist gerade das, was der organisationssoziologischen Analyse Schwierigkeiten bereitet, für das Selbstverständnis der Kirche massgeblich? Vielleicht ist es ja ein kardinaler Irrtum, das Mitgliederverhalten in erster Linie als (rationale oder ökonomisch-rational zu analysierende) Entscheidung zu behandeln, statt als (zugleich eigentümlich freie und gebundene) Antwort von Personen auf eine vorgängige (zugesagte und fremde) Entscheidung Gottes über ihre Lebenswirklichkeit?» Die Sichtweise bringt nicht die Herausforderungen der realexistierenden Kirchen in der Gegenwart zum Verschwinden, aber wirft die berechtigte Frage auf, ob die Kirchen nicht in einer Sackgasse unterwegs sind, wenn sie bei ihrer Lösungssuche unkritisch den ökonomischen und politischen Systemlogiken folgen.
Zweifellos riskiert ein hochdotiertes Personal an staatlichen Universitäten mit solchen Überlegungen ungleich weniger als Personen auf kirchlichen Gehaltslisten. So lässt sich entspannt über die Zukunft der Kirchenfinanzen nachdenken, ohne an dem ökonomischen Ast herum zusägen, auf dem man selbst sitzt. Aber nachdem das gesagt ist, muss im gleichen Atemzug zweierlei ergänzt werden: (1.) Das Christentum hat sich stets – zumindest seiner Theorie nach – als hochriskantes Unternehmen verstanden: Kein Stein bleibt auf dem anderen, alles geht in die Brüche, bevor alles neu werden kann, und der Erfolg und Ertrag dieser buchstäblichen Lebensinvestition stehen in den Sternen. Weil die Subjektperspektive des Glaubens nicht mit dem diakonischen Auftrag der Kirche verwechselt werden darf und die Hoffnung auf Heil nur so real ist, wie jede Person zu einem hoffnungsvollen Leben befähigt wird, folgt mit Leo Karrer: (2.) Ein «Plädoyer für eine Theologie des Geldes […] Wie die Kirche mit Geld umgeht, könnte zum zeichenhaften Gegenhorizont für die universale Bedeutung des Geldes in der heutigen Welt werden.» Damit wird nicht behauptet, dass die Kirchen das Geld in jedem Fall besser und sinnvoller einsetzen würden als andere Institutionen. Aber der Anspruch, die finanziellen Ressourcen nicht für sich selbst, sondern als Kirche für andere – für die hilfsbedürftigen und in Not geratenen Anderen – zu verwenden, ist eine klare und ernsthafte Ansage. «Unser Verhältnis zu Gott, ist kein ‹religiöses› zu einem denkbar höchsten, mächtigen, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‹Dasein-für-andere›, in der Teilnahme am Sein Jesu». Entsprechend schliesst Ulrich Luz seinen engagierten Laupener Blick auf die Kirche mit der Forderung: «Die Grundentscheidung der neutestamentlichen Zeit und auch der Alten Kirche, dass das wichtigste Feld, auf dem kirchliche Finanzen gefordert sind, die Diakonie ist, muss wieder neu zur Leitlinie der Ausgabenpolitik der Kirchen gerade in der Situation des ‹Sparzwangs› werden. ‹Diakonie› bedeutet, dass die Kirche ihr Geld immer in erster Linie für Menschen ausgeben muss, die es nötig haben, lokal und weltweit, innerhalb und ausserhalb der Kirche. Das Budget einer Kirche ist ein sprechender Kommentar zum Evangelium, das sie verkündet – nur allzu oft stimmt beides nicht überein!»
Oberflächlich betrachtet laufen die Bemerkungen im Anschluss an Ulrich Luz auf die bekannte finanzpolitische Argumentationsstrategie der Kirchen, aktuell der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn in der Debatte über die Kirchensteuer juristischer Personen, hinaus: «833’600 Stunden Arbeit erbringen Freiwillige der drei Landeskirchen durchschnittlich pro Jahr. Sie kochen an Mittagstischen für alte Menschen, sie hören Einsamen am Telefon der Dargebotenen Hand zu, sie sammeln Lebensmittel für Bedürftige. ‹Müsste der Staat solche Angebote übernehmen, bräuchte es dafür rund 400 Vollzeitstellen›, sagte Christoph Schuler, Pfarrer und Präsident der christkatholischen Kirche. ‹Die Kirchen sind unverzichtbar für die Gesellschaft.› […] ‹Wir werden künftig sicher mehr davon sprechen, was wir Gutes tun›, betonte [Judith] Pörksen. Wichtig sei auch zu wissen, dass die Steuern, welche Unternehmen bezahlen, ausschliesslich für gesamtgesellschaftliche Angebote verwendet werden dürften – nicht für kultische Zwecke wie beispielweise Gottesdienste. Und Angebote wie Mittagstische oder Seniorenferien stünden allen Menschen offen. ‹Wir fragen sie nicht, ob sie Mitglied einer Kirche sind, ob sie überhaupt religiös sind oder einen anderen Glauben haben.›» Der knappe Tätigkeitsbericht gibt einen exemplarischen Einblick in das weite Aufgabenspektrum, das die Kirchen in der und für die Gesellschaft wahrnehmen. Gleichzeitig klingt in der Ankündigung der Bernischen Synodalratspräsidentin, zukünftig nicht nur Gutes zu tun, sondern auch darüber zu sprechen, ein leichtes Unbehagen mit, das Jesus in gewisser Weise selbst provoziert hat. Einerseits fordert er, weithin erkennbar Salz der Erde zu sein: «So soll euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.» (Mt ,16). Andererseits formuliert er beim Almosengeben genau umgekehrt: «Seht zu, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Leuten dartut, um von ihnen gesehen zu werden, sonst könnt ihr keinen Lohn erwarten von eurem Vater im Himmel.» (Mt 6,1) Unabhängig davon, welcher Version gefolgt wird, gilt die Präsentation oder das Verbergen des kirchlichen Engagements in jedem Fall dem göttlichen Auftrag und nicht der Legitimation oder Rechtfertigung von irgendwelchen staatskirchenrechtlichen Forderungen oder Privilegien.
Mit einem Bild: Die Kirchen füllen mit ihren Angeboten zwar Stadien, aber ihr Fanclub wird immer überschaubarer. Anders als die deutschen Fussballfans, die erfolgreich gegen die Geldgier der Fussballfunktionäre aufbegehrten, verfügen die kirchlichen Stadionbesucher:innen in der Regel weder über eine Stimmgewalt noch über eine Organisationsstruktur. Sie tragen auch nicht das Geld ins Stadion, sondern kommen häufig dorthin, weil es ihnen genau daran fehlt. Sie suchen längst nicht immer freiwillig den Weg in die kirchliche Arena, sondern aus Not und mangels Alternativen. Der realistische Blick ist aus kirchlicher Sicht ernüchternd, erklärt aber den eigenartigen Beigeschmack, der den kirchlichen Beiträgen in den politischen Kirchensteuerdebatten anhaftet. Der Eindruck entsteht, weil die Kirchen eine Position einnehmen, die in doppelter Hinsicht nicht ihre sein kann.
(1.) Gemäss ihrem biblischen Auftrag stellen die Kirchen nicht eigene Ansprüche, sondern stärken die berechtigten Interessen derjenigen, die mit einem diakonischen oder seelsorgerlichen Anliegen an die Kirchen herantreten. Es sind die Bedürfnisse und die Not der anderen, die die Kirchen gegenüber Staat und Gesellschaft hör- und sichtbar machen. Und sofern und solange Kirchen das tun, sind Staat und Gesellschaft nicht frei in ihrer Aufmerksamkeit gegenüber den Anliegen, die die Kirchen zwar äussern, deren Subjekte sie aber nicht sind, weil es die eigentlichen Ansprüche der Bürger:innen betrifft. Was Kirchen dagegen aus reinem Eigeninteresse fordern, muss Staat und Gesellschaft nicht beeindrucken. Gäbe es den Staat nicht oder existierten die Kirchen in einem libertären, korrupten oder diktatorischen Regime, würde sich die politische Aufgabe der sozialen Gerechtigkeit auf die kirchliche Diakonie reduzieren.
(2.) Die Rechnung zwischen Staat und Kirche geht nur unter der Bedingung einer Arbeitsteilung auf, die nicht in einer tugendethischen Haltung, sondern im staatlichen Subsidiaritätsprinzip gründet. Für den liberalen Rechtsstaat bilden die Bedingungen für ein selbstbestimmtes, sozial integriertes und selbstbefähigtes Leben jeder Person keine Tugendpflichten, die der Staat dem good will der Kirchen und Zivilgesellschaft überlassen kann, sondern Rechtspflichten, die der Staat allen Personen schuldet. Er kann die Erfüllung seiner Rechtspflichten delegieren, wenn er dafür sorgt, dass die stellvertretenden Instanzen und Institutionen diese Aufgaben auch tatsächlich erfüllen können. Der Staat ist in gewissen Grenzen frei, wie er seine Pflichten gegenüber den Bürger:innen wahrnimmt, aber er kann nicht frei wählen, ob er seine Pflichten erfüllt oder sistiert. Deshalb ist es grundsätzlich problematisch, wenn die staatlich garantierten Leistungen der sozialen Gerechtigkeit durch kirchliche Freiwilligenarbeit erbracht werden, weil damit die Anrechte der Bürger:innen auf den Status von Bedürfnissen herabgesetzt werden, deren Erfüllung etwa davon abhängt, ob die Kirchen über genügend Freiwillige und die notwendigen materiellen Ressourcen verfügen. Fragwürdig ist auch die kirchliche Ankündigung von Angebotskürzungen, weil diese nicht den Staat treffen würden, sondern die Personen, die darauf angewiesen sind. Bedürftige Personen dürfen nicht zum Druckmittel in kirchenpolitischen Debatten werden. Umgekehrt können die Kirchen nicht Freiwillige mit dem Argument eines subsidiären staatlichen Auftrags verpflichten.
Es wäre zynisch, darauf zu setzen, dass Staat und Gesellschaft ihren Gemeinwohlverpflichtungen nicht nachkommen, um die Kirchen unentbehrlicher zu machen.
Die kirchlichen Beiträge zur Kirchensteuerdiskussion stehen gewissermassen auf dem Kopf, weil sie mit einem Aufgabenprofil werben, das wie ein gesellschaftliches nice to have erscheint, über dessen Vorhandensein oder Abschaffung der Staat beliebig entscheiden könnte. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Deshalb sollten die Kirchen nicht darauf insistieren, welchen Beitrag sie für die Gesellschaft leisten, sondern den Staat daran erinnern, welche Pflichten er gegenüber seinen Bürger:innen hat, und aufmerksam hinschauen, ob und wie er diesen Pflichten sachgemäss und sozial gerecht nachkommt. Es wäre zynisch, darauf zu setzen, dass Staat und Gesellschaft ihren Gemeinwohlverpflichtungen nicht nachkommen, um die Kirchen unentbehrlicher zu machen. Der für den modernen Staat fundamentalen Pflichtendifferenz korrespondiert der genuine Charakter des diakonischen Auftrags und Handelns der Kirche, wie ihn Ulrich Luz herausgearbeitet hat. Der Antrieb für kirchliches Engagement ist nicht das Motiv staatlicher Politik und umgekehrt. Die christliche Kirche buchstabiert Gerechtigkeit anders als der Staat, aber sie hat als öffentliche Kirche die Aufgabe, den Staat konsequent an seinen Verfassungsauftrag zu erinnern, falls dieser seine Gerechtigkeitspflichten zurückbuchstabiert.
Die kritische Funktion öffentlicher Kirche verweist auf einen weiteren in den gesellschaftspolitischen Debatten über Status und Finanzierung der Kirchen übersehenen Punkt. Seit geraumer Zeit werden die westlichen Demokratien von einer Hypermoralisierung durchgeschüttelt, die das moderne, selbstbewusste Rationalisierungs- und Säkularisierungsnarrativ innerhalb kürzester Zeit pulverisierte. Wie die jüngsten Krisen zeigen, reagieren die staatlichen Politiken darauf mit einer eigenen moralischen Aufrüstung. «Freunde» und «Feinde», «Gute» und «Böse» gehören wieder zum Vokabular politischer Rhetorik und prägen die politische Urteilsbildung und Entscheidungsfindung. Ihnen steht ein identitätspolitisch gewebter zivilgesellschaftlicher Flickenteppich gegenüber. Der demokratische Diskurs wird durch Lobbydebatten abgedrängt, deren Partikularinteressen keine regulative Funktion für staatliche Politik haben, sondern lediglich ein mehr oder weniger willkürliches Reparaturverhalten aktivieren.
In einer notorisch religiös-unmusikalischen politologischen und sozialwissenschaftlichen Kultur blieb die strukturpolitische Bedeutung der Kirchen in Westeuropa lange Zeit unter dem theoretischen Radar. Zwar erhielten die Kirchen in Westeuropa nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg eine gewisse moralische Orientierungsrolle, die aber mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Liberalisierung wegschmolz. Erst mit einiger Verzögerung werden die Folgen des Aufmerksamkeitsverlusts gegenüber den Kirchen als kritisch-regulatives Pendant zur staatlichen Politik sichtbar. Während nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in der Russischen Föderation die Russische orthodoxe Kirche als staatsmoralische Instanz rehabilitiert und instrumentalisiert wurde, schoben sich die säkularisierten westeuropäischen Staaten die Aufgabe selbst zu. Die Moral auf der Seite der Politik büsst damit ihr kritisch-regulatives Potential ein, anstatt politische Gegenmacht wird sie zur politisch instrumentalisierten Legitimationsressource. Die Verschmelzung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik in der aktuellen Politik führt einerseits zu einer fragwürdigen Überhöhung (Sakralisierung, Konfessionalisierung) politischer Entscheidungen, denen andererseits ihr kritischer Spiegel abhandengekommen ist. Vor diesem Hintergrund bedeutet das staatliche Schrauben an der Kirchensteuer auch die Depotenzierung eines wichtigen Sparring-Partners, dessen kritisch-regulative Aussenperspektive die Diskursivität und Plausibilisierung staatlicher Politik einfordert und durch den öffentlichen Diskurs zu ihrer Legitimität beiträgt. Die schleichende Redimensionierung einer öffentlichen Gegenstimme war noch nie eine erfolgreiche und zielführende Strategie rechtsstaatlich-demokratischer Politik. Darüber müssen nicht die Kirchen, sondern sollte der Staat um seiner selbst willen sorgfältig nachdenken.
Text mit Fussnoten und Quellenangaben:
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