Der Schlussbericht der 8. Vollversammlung der GEKE 2018 in Basel enthält als Anhang 3 den Text «Miteinander in Europa. 100 Jahre Ende des Ersten Weltkrieges: Gemeinsam erinnern für die Zukunft».[1] In der Einleitung wird betont, dass die GEKE «ein gemeinsames Wort gefunden hat und sich zur Frage der Schuld, der Aufgabe der Versöhnung, der Frage von Migration und Minderheiten, und der Herausforderung von Demokratie und Zivilgesellschaft äussert».[2] Der bemerkenswerte Text endet mit einem Zitat des Propheten Jeremia: «Suchet der Stadt Bestes» (Jer 29,7)[3] Die aktuellen Verhältnisse in Europa machen den bisher nicht eingelösten Anspruch dringlicher, aber auch schwieriger denn je.
Nicht erst seitdem die GEKE mit ihrer Namensänderung 2003 das Wort im Titel trägt, ist «Europa» ihr Thema.[4] Mit der Gewährung der vollen Kirchengemeinschaft demonstriert die Leuenberger Konkordie von 1973 selbst einen europäischen Einigungsprozess, mit dem ein knapp 500 Jahre bestehender innerprotestantischer Bruch überwunden wurde (besonders LK § 47). Das heutige politische Europa und seine Herausforderungen sind das Ergebnis der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Die politischen, ökonomischen und sozialen Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg, die die GEKE-Vollversammlung 100 Jahre später thematisiert, wurden verschärft durch die gewaltigen Folgen des Zweiten Weltkriegs und in anderer Weise durch das dramatische Ende der bipolaren Weltordnung. Bereits ein Jahr nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bemerkte der langjährige GEKE-Generalsekretär Wilhelm Hüffmeier: «Die europäische Integration, das Entstehen des europäischen Hauses, fordert die Kirchen in mehrfacher Weise heraus: ihre Verkündigung, ihr Wächteramt, ihr prophetisches Zeugnis, ihr Dienst. Wie aber soll das alles möglich sein ohne mehr Gemeinsamkeit und Einigung?»[5] Der europäische Protestantismus repräsentiert nicht nur das Europa auf kirchlicher Ebene, er ist auch ein Symptom der politischen Zustände und Herausforderungen im sich wandelnden Europa.
Unter dem Eindruck der Ereignisse von 1989 hatte die 4. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft im Mai 1994 in Wien ein Lehrgespräch zum Thema «Kirche – Volk – Staat – Nation» in Auftrag gegeben, das auf der 5. Vollversammlung 2001 in Belfast entgegengenommen wurde.[6] Eindringlich warnt das Dokument vor der «Gefahr des Nationalismus» und präzisiert: «Wird die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Nation religiös oder ideologisch überhöht und damit in den Rang eines Wertekanons mit unbedingter Geltung erhoben, so kann das zu einem Nationalismus führen, der ein erhebliches Bedrohungspotential darstellt. […] Im Europa nach der Wende 1989 sind sie [nationalistische Tendenzen; FM] erneut und verstärkt zu Tage getreten. Ungelöste Fragen nationaler Eigenständigkeit und ethnischer Selbstbestimmung melden sich nachdrücklich zu Wort. Unter dem Gewicht des jahrzehntelangen Ost-West-Konfliktes sind sie offensichtlich nur verdrängt, wenn nicht unterdrückt worden; wirklich aufgearbeitet wurden sie jedoch nicht.»[7] Das in Belfast in Auftrag gegebene und auf der 6. Vollversammlung 2006 in Budapest entgegengenommene Dokument «Gestalt und Gestaltung protestantischer Kirchen in einem sich wandelnden Europa»[8] versteht Europa als «Lebens- und Gestaltungsraum»[9] der protestantischen Kirchen. «Der europäische Vereinigungs- und Integrationsprozess stellt vor schwierige politische, ökonomische und ethische Probleme, nach deren Lösung gesucht wird. Die protestantischen Kirchen in Europa wie sie in der GEKE vereinigt sind, können in der Wahrnehmung ihres Auftrages dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Sie treten für die Humanisierung Europas ein, indem sie Gottes Liebe zu allen Menschen bezeugen. Ausserdem haben sie Erfahrungen in der Ausbalancierung von Vielfalt und Verbindlichkeit, von Verschiedenheit und Gemeinschaft, die für ein Europa der Nationen und Regionen von erheblicher Bedeutung sein können. Daher müssen sie Verfahren entwickeln, um ihre gemeinsame Stimme und ihr Zeugnis im öffentlichen Diskurs wie im gemeinsamen Handeln zu stärken.»[10] Auch der Abschlussbericht der 7. Vollversammlung 2012 in Florenz enthält im Anhang einen Text, in dessen Titel die beiden Schlagwörter «Europa» und «Zukunft» auftauchen: «Frei für die Zukunft – Verantwortung für Europa».[11] Unter dem Eindruck der globalen Finanzkrise fordert die Vollversammlung «Mut zur Wahrheit», der sich gegen eine «Ideologie der Alternativlosigkeit [richtet], die das Gegenteil von Wahrheit und Freiheit ist. Sie birgt die Gefahr, die Freiheit für die Zukunft zu verspielen.»[12] Das Plädoyer für eine reformatorisch-dialogische Vision von Europa prägt ebenfalls das GEKE-Studiendokument «Theologie der Diaspora», mit der Feststellung und Forderung: «eine gesamteuropäische Öffentlichkeit ist nach wie vor ein Desiderat. Die GEKE sollte sich mit der Frage befassen, was sie zur Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen kann.»[13]
Als roter Faden zieht sich durch die GEKE-Dokumente einerseits die Betonung der Pluralität, «Definitionsresistenz, offene[n] Identität und Multiperspektivität» der europäischen Nationen und auch der nationalen protestantischen Kirchen. Andererseits enthalten die gesellschaftspolitische Themen aufgreifenden Texte nach 1989 durchgehend warnende Hinweise auf die deutlich zunehmenden «auseinanderstrebenden politischen Kräfte in Europa […], die in den vergangenen 100 Jahren immer wieder hervortraten, aber kaum bewältigt wurden».[14] Der Überblick vermittelt den Eindruck, dass sich die Zeiten zwar ändern, aber die Probleme – mit unterschiedlichen Ausprägungen – die Gleichen bleiben. Die «Idee» Europas bleibt also auch aus kirchlicher Sicht und für die Kirchen eine «unabgegoltene»[15] im Blick auf: a) die Schuldfrage, b) die Frage der Rechte der Minderheiten, c) die Frage der Flucht und Migration, d) die Frage der Versöhnung und e) die Frage nach demokratischer Kultur und Zivilgesellschaft.[16]
Das ekklesiologische Selbstverständnis der GEKE als «versöhnte Verschiedenheit»[17] wird durch die politischen Realitäten und Entwicklungen stark belastet oder sogar in Frage gestellt. Sándor Fazakas resümiert: «Aus westlicher Perspektive werden im Osten des alten Kontinents – 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer – neue Mauern und Stacheldrahtzäune errichtet, autoritäre politische Systeme wieder aufgebaut und auf den Namen ‹illiberale Demokratien› getauft; Europaskepsis, Fremdenfeindlichkeit und Missachtung der Menschenrechte oder der Rechtsstaatlichkeit werden der politischen Elite vorgeworfen – einer Elite, die keineswegs aus dem Kreis der ehemaligen Kommunisten oder Postkommunisten, sondern aus den Reihen der damaligen Dissidentenbewegung und Oppositionsgruppen kommt. Aus der Sicht der mittel- und osteuropäischen Länder wird jedoch eine nicht funktionierende multikulturelle Gesellschaft vom Westen aus aufgezwungen. Die wirtschaftlichen West-Ost-Gefälle werden weiter und absichtlich aufrechterhalten, die politische Bevormundung gegenüber den später der EU beigetretenen Gesellschaften werde im Namen einer Hegemonie des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus gefördert, national-kulturelle sowie moralische und religiöse Werte (z.B. Ehe, Familie, ethnisch-kulturelle Identität usw.) werden relativiert.»[18] Die Frage drängt sich auf, ob und welche Impulse die kirchliche «versöhnte Verschiedenheit» in einer Wirklichkeit wachsender politischer Unversöhnlichkeiten setzen kann. Aus reformatorischer Sicht können sich die protestantischen Kirchen nicht mit einer innerkirchlichen oder innerlichen «Versöhnung» zufriedengeben, der keine versöhnende politische Praxis entspricht. Während diese reformatorische Einsicht kaum Kontroversen hervorruft, besteht bei der Frage nach den politisch-ethischen Orientierungen und Massstäben für das kirchliche Reden und Handeln grosse Uneinigkeit. Vor diesem Hintergrund skizziert der reformierte Theologe und Ethiker aus Debrecen für den europäischen Protestantismus vier Aufgaben, die auf zwischenkirchliche Deeskalation und nationale Distanznahme gerichtet sind: 1. «aktuellen Krisennarrativen mit Realismus und Sachlichkeit […] begegnen»;[19] 2. «den politischen Vereinnahmungsversuchen […] widerstehen»;[20] 3. «ethische Reflexionen gegen ein zunehmendes moralisierendes Politikverständnis»[21] und 4. «an einer Kultur des Vertrauens als Dimension kirchlichen und gesellschaftlichen Handelns […] arbeiten, die der anhaltenden sozialen, kulturellen und moralischen Unübersichtlichkeit entgegenwirken könnte».[22]
Vom 3. bis 5. November 2023 fand in Bern die Tagung «‹Suchet der Stadt Bestes› (Jer 29,7). Wie miteinander in Europa? Ethische Konsequenzen ‹versöhnter Verschiedenheit›. Jubiläumstagung der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS anlässlich 50 Jahre Leuenberger Konkordie» statt. Sie fokussierte auf die oben skizzierten Problemlagen. Anhand der Themenschwerpunkte europäische Werte, Integrative Potentiale protestantischer Ethik, Migration, Nationalismus sowie Pluralität und Verbindlichkeit ging die Tagung der Frage nach der Korrespondenz von innerkirchlicher Versöhnung und versöhnender politischer Praxis nach. Die einzelnen Themen wurden mit einem Vortrag eröffnet (vgl. die in dieser Ausgabe publizierten Keynotes), an den sich eine Plenumsdiskussion anschloss, die dann in thematischen Arbeitsgruppen vertieft wurden und in zusammenfassende Impulse mündeten. Das Plenum nahm abschliessend ein Ranking der eingebrachten Thesen und Forderungen vor. Die grösste Zustimmung erhielten die folgenden Vorschläge: 1. Jugendaustausch zwischen GEKE-Gemeinden fördern. 2. «Es ist noch Luft nach unten» d.h. theologische Einsichten sind in die konkrete Arbeit vor Ort zu übersetzen. 3. Heimat, Kultur, Sprache, Identität: Sind diese Begriffe theologisch valent? 4. Inwiefern ist die konkrete Verwurzelung in diesem Land, auf diesem Acker, von theologischer Relevanz? 5. Was wir in Europa verteidigen wollen, müssen wir gemeinsam erarbeiten. 6. Stimme erheben gegen Instrumentalisierung von kulturellen Identitäten und nationalem Bewusstsein. 7. Unsere Gemeinschaft wird gestärkt durch Begegnung auf verschiedenen Ebenen. 8. Protestantische Solidarität auf Ebene der GEKE (Solidarität mit von unrecht Betroffenen, in Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaftlichen Organisationen). 9. Sich einüben in einen qualifizierten Dialog. 10. Internationalisierung der GEKE durch aussereuropäische Migration als Herausforderung wahrnehmen.
Wo steht die GEKE heute und in welche Richtung geht sie weiter? Die nachfolgenden Bemerkungen stehen einerseits unter dem Eindruck der Vorträge, Arbeitsgruppen- und Plenumsdiskussionen der Berner Tagung. Andererseits geben sie eine schweizerische Sicht wieder, also eine, die sich liberalen westeuropäischen Traditionen eng verbunden weiss, und gleichzeitig eine manchmal auch kritische Distanz zur Europäischen Union einnimmt.
Runde Jubiläen sind ein deutlicher Beleg dafür, dass das Geburtstagskind eine Geschichte hat und in die Jahre gekommen ist. Die Leuenberger Konkordie kam in der Zeit des Eisernen Vorhangs zustande. Der ekklesiologischen Einheit der protestantischen Kirchen korrespondierte eine Unversöhntheit der politischen Verhältnisse, in der die Kirchen beheimatet waren. Die Kirchen in Osteuropa waren allenfalls geduldet und manchmal zu problematischen Arrangements mit der Staatsmacht genötigt. In der kommunistischen Ära mussten sie sich im komplexen Gefüge von nationaler Zughörigkeit, kulturellen Prägungen und staatlich vorgeschriebenen Rollen zurechtfinden. Zwar endete 1989 die staatliche Repression, dafür fanden sich die Kirchen der ehemaligen Sowjetunion in einer westeuropäisch geprägten Kirchenlandschaft wieder, in der sie weder verwurzelt waren noch an die sie aufgrund ihrer eigenen Geschichte ohne Weiteres andocken konnten. Ekklesiologische Einheit beseitigt nicht ipso facto ekklesiale Unterschiede und Gegensätze. An die Stelle der Differenzen, die durch die Reformation hervorgerufen und durch die Konkordie ausgeräumt worden waren, traten neue Konflikte, die sich aus den unterschiedlichen politischen Kontexten der Kirchen ergaben. Die Kirchengemeinschaft reagierte darauf, indem sie seit 2003 von theologischen Lehrgesprächen stärker auf politisch-ethische Themen umstellte. Die politische Geografie Europas rückte prominent ins Blickfeld der GEKE.
Die strategische Neujustierung ist nachvollziehbar und folgerichtig. Allerdings beruht sie auf konzeptionellen Voraussetzungen mit ambivalenten Auswirkungen auf die Begegnungen und Dialoge der GEKE-Kirchen. Das Umstellungsnarrativ der GEKE von theologischen Lehrfragen auf ethische Themen wird nur plausibel unter der Annahme eines theologisch-ethischen Dualismus, nach dem dogmatisch-theologische Fragen unabhängig von ihren ekklesialen, politisch-ethischen Bedingungen und Konsequenzen diskutiert und entschieden werden können. Danach wäre die Konkordie gewissermassen der inhaltliche «Kern» der Übereinstimmung der Kirchengemeinschaft, demgegenüber den sozial-ethischen Themen lediglich eine nachgeordnete Bedeutung zukommt. Eine solche Zwei-Ebenen-Lehre bedient nicht nur die überholte disziplinäre Vorstellung von der Unverbundenheit dogmatischer und ethischer Themen. Darüber hinaus weist die weitgehende Vernachlässigung der politischen Geografie darauf hin, dass die dogmatischen Klärungen einen historisch ungebundenen Status beanspruchen. Tatsächlich entsteht der Eindruck, dass die unterschiedlichen historischen Erfahrungen der Kirchen erst aus zeitgebundener politisch-ethischer Perspektive einen trennenden Charakter bekämen. Die doppelte Trennungsthese (zwischen Dogmatik und Ethik einerseits und zwischen überzeitlich und historisch andererseits) ist der elephant in the room, der Leuenberg von Anfang an begleitet und der durch den eisernen Vorhang auf beiden Seiten (!) auf Distanz gehalten wurde.
Bereits das die Leuenberger Konkordie abschliessende Pflichtenheft dokumentiert, dass mit die dogmatisch-ekklesiologischen Klärungen auch politisch-ethische Grundentscheidungen im Blick hatten (LK § 36). Die anschliessenden Lehrgesprächsresultate spiegeln die historischen Verhältnisse der westeuropäischen Nachkriegsordnung wider (Menschenrechte, Liberalismus, Individualismus, Selbstbestimmung, demokratische Legitimität staatlicher Ordnungen), die auch nach 1989 unhinterfragt bestehen blieben.[23] Das hatte drei weitreichende Konsequenzen: Erstens setzte der ethische Dialog nicht erst in der zweiten Phase der GEKE ein, wie das historische Narrativ nahelegt. Vielmehr begann damit die Verteidigung der bereits bezogenen ethischen Positionen und Haltungen. Zweitens war damit das Risiko verbunden, die politisch-ethischen Überzeugungen theologisch zu überhöhen und jede abweichende politisch-ethische Position dem Vorwurf auszusetzen, den ekklesiologischen Konsens von Leuenberg in Frage zu stellen. Drittens waren die anschliessenden Bemühungen um eine Korrespondenz von ekklesiologischer Einheit und politisch-ethischer Uneinheitlichkeit durch Gefälle gekennzeichnet, das der Entstehungsgeschichte der Konkordie geschuldet war. Politische Freiheit wurde so gedeutet, dass die Errungenschaften der westlichen Nachkriegsordnung nun auch von/mit den Menschen und Kirchen aus Osteuropa geteilt werden konnten. Die westliche Defizitperspektive auf den Osten wurde als gemeinsam geteilte Grundhaltung vorausgesetzt. Es wurde davon ausgegangen, dass die westliche Aussensicht auf die anderen im Osten nun von diesen anderen als Selbstwahrnehmung übernommen würde. Erst langsam machte sich eine Kritik an den westlich-liberalen Wertorientierungen bemerkbar, bei der manche protestantischen Kirchen in Osteuropa den orthodoxen Kirchen näherstehen als dem deutschen Luthertum oder den schweizerischen Reformierten, mit denen sie Kirchengemeinschaft haben. Umgekehrt fällt es den westeuropäischen GEKE-Kirchen schwer die politisch-ethischen Dissense nicht als Abweichungen von einem vermeintlichen Konsens, sondern als politische Wirklichkeit der Kirchengemeinschaft anzuerkennen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die GEKE einen kritischen Punkt in ihrer institutionellen Entwicklung erreicht hat. Dieser besteht in der konsequenten Gestaltung einer politischen Praxis, in der die konstitutiven Spannungen zwischen Zusammenarbeit und Dissens zugelassen werden und wo Machtverhältnisse als unvermeidbar anerkannt werden, sodass ihre kritische Bearbeitung zur zentralen Aufgabe werden kann.
Die GEKE bildet nicht nur einen Kulminationspunkt in der ökumenischen Kirchen- und reformatorischen Konfessionsgeschichte, sie blickt inzwischen selbst auf eine 50-jährige Institutionsgeschichte zurück. Nüchtern betrachtet ist die Leuenberger Konkordie das Ergebnis eines von den westeuropäischen Kirchen (zu Zeiten des Eisernen Vorhangs) vorangetriebenen, orchestrierten und dirigierten Prozesses, das den Kirchen in liberal-demokratischen Gesellschaften auf den Leib geschneidert wurde und das manchen osteuropäischen Kirchen bis heute eine Art permanente Oppositionshaltung gegenüber ihrem Staat abverlangt. Die Zumutungen und Mühsalen der «versöhnten Verschiedenheit» sind sehr ungleich verteilt. Dagegen kann Verschiedenheit nur dann als versöhnt gelten, wenn sie auf der wechselseitigen Anerkennung jener Eigenheiten beruht, die verschiedene Subjekte und Akteur:innen (Kirchen) für sich selbst in Anspruch nehmen unabhängig davon, ob die anderen mit ihnen übereinstimmen oder nicht.
An dieser Stelle ist eine grundsätzliche Unterscheidung unverzichtbar. In den strittigen Punkten geht es nicht um einen Familienkrach oder Gruppenkonflikt, sondern um spezifische historisch-politische Umwelten von Institutionen, die in einem wiederum institutionalisierten Zusammenhang (GEKE) konflikthaft aufeinandertreffen. Im Abendmahl sind alle Mitglieder der GEKE-Kirchen gemeinschaftlich verbunden, aber nicht die institutionalisierten Kirchen. Kirchen sind nicht die Subjekte, denen das Himmelreich verheissen ist. Zugleich gründet die Einheit der Kirchengemeinschaft ausdrücklich in der von Christus selbst zum Gedächtnismahl versammelten Gemeinde. Aus der Perspektive der eschatologischen Nachfolgegemeinschaft rückt ein Kriterium für die kirchliche Praxis ins Zentrum: Was müssen die Kirchen tun, damit sie jeder Person ermöglichen, der Einladung Christi zur Tischgemeinschaft mit ihm zu folgen? Und was müssen die Kirchen unterlassen, damit sie nicht eine einzige Person daran hindern oder davon abhalten, am Tisch des Herrn Platz zu nehmen? Die politische Praxis der GEKE muss sich an diesen Fragen orientieren, die jede Mitgliedskirche und die Kirchengemeinschaft gemeinsam auf ihren eigentlichen Grund und ihre Aufgabe in situ verweisen.
Diese Fragen haben eine eminent politische Dimension, wie Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth betonen. Diese besteht u.a. in der kirchlichen Verantwortung für den staatlichen Respekt und Schutz der Freiheit der Person, die auch die Bedingung für den Zugang zur Gemeinde, zur kirchlichen Verkündigung und zu den kirchlichen Sakramenten darstellt. «Sowohl ein Zuwenig an Ordnung und Recht als auch ein Zuviel an Ordnung und Recht zwingt die Kirche zum Reden. Ein Zuwenig ist jedesmal dort vorhanden, wo eine Gruppe von Menschen rechtlos wird […]. [Ein] Zuviel an Ordnung und Recht […] besagt, dass der Staat seine Gewalt so ausbaut, dass er der christlichen Verkündigung und dem christlichen Glauben […] sein eigenes Recht raubt».[24] Und Barth: «[D]ie Christengemeinde in der Bürgergemeinde [wird] auf alle Fälle da zu finden sein, wo deren Ordnung darauf begründet ist, dass von der Beugung unter das gemeinsam als Recht Erkannte und Anerkannte, aber auch vom Schutze dieses Rechts keiner ausgenommen, dass alles politische Handeln unter allen Umständen durch dieses Recht geregelt ist. Sie steht immer für den Rechtsstaat, immer für die maximale Geltung und Anwendung jener doppelten Regel und darum immer gegen alle Entartungen des Rechtsstaates als solchen. Sie wird also nie auf der Seite der Anarchie und nie auf der Seite der Tyrannei zu finden sein.»[25] Bonhoeffers und Barths Bestimmungen der kirchlichen Verantwortung für den Staat und seine Bürger:innen mögen aus einer aktuellen zivilgesellschaftlichen Perspektive reichlich staatsaffin und etatistisch klingen. Aber sie liefern (1.) ein klares Kriterium und vermeiden (2.) die einseitige Bezugnahme auf eine einzige politische Grosserzählung der Nachkriegsordnung. Hilfreich für die Zukunft wäre es, wenn die GEKE bereit wäre, ihre eigene Geschichte nach 1989 nicht nur als Vereinigungsgeschichte, die sie zweifellos ist, sondern auch als neue Konfliktgeschichte[26] «Konflikt» wird hier konstruktiv als institutionell-politisches Medium verstanden, als eine Wirklichkeit, die das Ringen um die Einheit in Zeugnis und Dienst voranbringt und eine Bedingung für die fortwährende (Um)Gestaltung kirchlicher Machtverhältnisse – die sie nolens volens hervorbringen – darstellt.
Die Verkündigungs- und Mahlgemeinschaft ist der Ort, an dem eine Gemeinschaft, die den Konflikt nicht negiert, sondern wahr- und ernstnimmt, ihre Einheit verwirklicht erlebt. «Versöhnte Verschiedenheit» kommt aus der Versöhnung die von Gott in Jesus Christus vollbracht und mitgeteilt wird, die uns auf heilsame Weise unsere eigene Konflikthaftigkeit und die gemeinsamen Konfliktgeschichten durchleben lässt.[27]
Autoren: Frank Mathwig und Elio Jaillet
[1] Mario Fischer/Kathrin Nothacker (Hg.), befreit – verbunden – engagiert. Dokumentationsband der 8. Vollversammlung 2018. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) vom 13.–18. September 2018 in Basel, Schweiz, Leipzig 2019, 65–72.
[2] GEKE, Europa, 65.
[3] Ebd.
[4] Vgl. Michael Beintker, Europa als unabgegoltene Idee. Ekklesiologisch orientierte Beobachtungen und Reflexionen: ZThK 111/2014, 56–75.
[5] Wilhelm Hüffmeier, Einheit und Vielfalt der Kirche Jesu Christi am Beispiel der evangelischen Christenheit in Europa, zit. n. Elisabeth Parmentier, Grenzüberschreitungen für ein versöhntes Europa. Baustellen für die evangelischen Kirchen und ihre Theologie: Martin Friedrich/Hans Jürgen Luibl/Christine-Ruth Müller (Hg.), Theologie für Europa – Perspektiven evangelischer Kirchen. Im Auftrag des Exekutivausschusses für die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – Leuenberger Kirchengemeinschaft, Frankfurt/M. 2006, 69–80 (70).
[6] Leuenberger Kirchengemeinschaft, Kirche – Volk – Staat – Nation. Ein Beitrag zu einem schwierigen Verhältnis. Beratungsergebnis der Regionalgruppe der Leuenberger Kirchengemeinschaft Süd- und Südosteuropa. Im Auftrag des Exekutivausschusses für die Leuenberger Kirchengemeinschaft hg. von Wilhelm Hüffmeier, Frankfurt/M. 2002.
[7] Leuenberger Kirchengemeinschaft, Kirche, 61f.
[8] Leuenberger Kirchengemeinschaft, Gemeinschaft gestalten – Evangelisches Profil in Europa. Texte der 6. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – Leuenberger Kirchengemeinschaft – in Budapest, 12. bis 18 September 2006, hg. von Wilhelm Hüffmeier und Martin Friedrich, Frankfurt/M. 2007, 43–75.
[9] Leuenberger Kirchengemeinschaft, Gemeinschaft, 61–67.
[10] Leuenberger Kirchengemeinschaft, Gemeinschaft, 66f.
[11] Michael Bünker/Bernd Jaeger (Hg.), Frei für die Zukunft. Evangelische Kirchen in Europa. Texte der 7. Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) in Florenz, Italien, 20.–26. September 2012, Leipzig 2013, 40–45.
[12] GEKE, Zukunft, 41.
[13] Mario Fischer/Miriam Rose (Hg.), Theologie der Diaspora. Studiendokument der GEKE zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa, Wien 2019, 127.
[14] GEKE, Europa, 66f.
[15] Beintker, Europa. Der Begriff des Unabgegoltenen steht bei Walter Benjamin und Ernst Bloch für das utopische Moment in Tradition und (vergangener) Geschichte.
[16] Vgl. GEKE, Europa, 67–71.
[17] Leuenberger Kirchengemeinschaft, Versöhnte Verschiedenheit – der Auftrag der evangelischen Kirchen in Europa. Texte der 5. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Belfast, 19.–25. Juni 2001, hg. von Wilhelm Hüffmeier u. Christine-Ruth Müller, Frankfurt/M. 2003.
[18] Sándor Fazakas, «Wohin treibt Europa?» Anmerkungen zu einem viel diskutierten Thema aus theologisch-ethischer Sicht: ZEE 64/2020, 83–89 (83).
[19] Fazkas, Europa, 85.
[20] Fazkas, Europa, 86.
[21] Fazkas, Europa, 87.
[22] Fazkas, Europa, 88.
[23] Vgl. Leuenberger Kirchengemeinschaft, Evangelische Texte zur ethischen Urteilsfindung. Zwei-Reiche-Lehre – Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi, hg. von Wilhelm Hüffmeier, Frankfurt/M. 1997, besonders die Diskussion über CA 16 (Iure Bellare); dies., Kirche – Volk – Staat – Nation. Ein Beitrag zu einem schwierigen Verhältnis, hg.. von Wilhelm Hüffmeier, Frankfurt a/M, 2002. Für aktuellere Perspektiven vgl. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Evangelisch in Europa. Sozialethische Beiträge, hg. von Michael Bünker, Frank-Dieter Fischbach und Dieter Heidtmann, Leipzig, 2013. Vgl. dazu auch den Beitrag von Sándor Fazakas in dieser Ausgabe.
[24] Dietrich Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage. DBW 12, Gütersloh 1997, 349–358 (352f.).
[25] Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zollikon-Zürich 1946, 26.
[26] Einen innovativen Ansatz zur Überwindung der bisherigen Ost-West-Perspektive im Miteinander der GEKE-Kirchen bietet das Studiendokument Mario Fischer/Miriam Rose (Hg.), Theologie der Diaspora. Studiendokument zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa, Wien 2019, bes. das Kapitel zu öffentlicher Theologie, 106–125.
[27] Vgl. den Beitrag von Elisabeth Parmentier in dieser Ausgabe.
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