Ausschaffungsmonitoring – «Um der Menschen und nicht des Gesetzes willen»

10 Fragen - 10 Antworten der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz

Frage 1: Was ist Ausschaffung?

Ausschaffung ist die zwangsweise Rückführung von Migrantinnen und Migranten ohne gültigen Aufenthaltsstatus in der Schweiz. Ausgeschafft werden diejenigen, die nicht freiwillig zurückkehren und beispielsweise in Ausschaffungshaft sind. Ausschaffungen müssen rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Die Gefährdung der Betroffenen im Herkunftsland muss vor der Ausschaffung abgeklärt sein. Ansonsten ist die Ausschaffung rechtlich unzulässig.

Frage 2: Was ist Rückführungsmonitoring?

Die Schweiz ist gemäss EU-Rückführungsrichtlinie verpflichtet, ein «wirksames System für die Überwachung von Rückführungen» einzurichten. Es soll sichergestellt werden, dass die Würde der von Ausschaffung betroffenen Personen geachtet und die rechtsstaatlichen Grundsätze im Rückführungsverfahren eingehalten werden.

Zu diesem Zweck wird in der Schweiz ein Ausschaffungsmonitoring etabliert, das den Ausschaffungsprozess aus unabhängiger Perspektive beobachtet und dokumentiert. Das Monitoring schafft transparente und überprüfbare Strukturen, die nicht nur die auszuschaffenden Personen, sondern auch das ausschaffende Personal wirksam vor Übergriffen und Verdächtigungen schützen können.

Frage 3: Warum beteiligt sich der SEK am Rückführungsmonitoring?

Die Mitarbeit des SEK erfolgt auf Anfrage des Bundesamtes für Migration. In einer komplexen und schwierigen politischen Situation sind der Politik die Moderations- und Vermittlungskompetenzen der Kirche unverzichtbar. Um der Menschen und dem Schutz ihrer Rechte willen hat sich der SEK entschieden, das Mandat für die halbjährige Pilotphase zu übernehmen. Im Vorfeld hat sich der Kirchenbund in seinen migrationsethischen Äusserungen für ein solches Monitoringinstrument stark gemacht und befindet sich in diesem Anliegen in grosser Übereinstimmung mit anderen Kirchen in Europa.

Frage 4: Welche Absicht verfolgt der SEK mit seiner Beteiligung?

Dem Kirchenbund geht es bei seinem Engagement um die Sicherstellung eines menschenwürdigen und rechtsstaatlichen Umgangs mit den auszuschaffenden Personen und um den Schutz der persönlichen und moralischen Integrität der beteiligten Polizistinnen und Polizisten. Solange es Ausschaffungen gibt, müssen Staat und Gesellschaft dafür sorgen, dass solche Verfahren die Grundsätze von Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit nicht verletzen.

Das Monitoringinstrument nimmt einen alten Gedanken der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche auf. Aus der Tradition der alttestamentlichen Prophetie leiteten die Protestanten die öffentliche Aufgabe eines prophetischen oder politischen Wächteramtes der Kirche ab.

Dabei geht es konkret um die Frage, ob das Handeln des Staates «von ihm als legitim staatliches Handeln verantwortet werden [kann], d.h. als Handeln in dem Recht und Ordnung, nicht Rechtlosigkeit und Unordnung geschaffen werden», wie der Theologe Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik formuliert hat.

Frage 5: Wie ist das Monitoring organisiert?

Die Beobachtenden begleiten den Transport zum Flughafen, die Vorbereitungen auf den Flug, den Flug und die Ankunft im Zielland. Die Beobachtenden erstatten Bericht zuhanden des neu geschaffenen Fachgremiums, in dem sowohl Vertreterinnen und Vertreter vom Bund und den Kantonen als auch der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Das Fachgremium analysiert die Berichte und erarbeitet Empfehlungen. Am Ende der Pilotphase wird ein Schlussbericht zuhanden des Bundes verfasst. Organisiert ist das Monitoringsystem als Pilotprojekt. Der SEK übernimmt in dieser Zeitspanne das Patronat und moderiert das Fachgremium.

Frage 6: Rechtfertigt der SEK die Ausschaffungspolitik?

Der SEK setzt sich ein für die auszuschaffenden Menschen und nicht für das Ausschaffungsrecht. Es ist eine Sache, sich für den Schutz von Ausgewiesenen einzusetzen. Es ist eine ganz andere Sache, sich für das Instrument der Ausschaffung stark zu machen. Beide Absichten werden oft vermischt oder verwechselt. Dies darf aber nicht dazu führen, besser «die Finger davon zu lassen» wenn die menschenwürdige Behandlung von Menschen auf dem Spiel steht. Der Kirchenbund kann nicht gleichzeitig seine Ablehnung der  Ausschaffungsinitiative  menschenrechtlich  begründen und sich in dem Moment vornehm zurückhalten, wo die Menschenrechtsfrage praktisch wird.

Über das Für und Wider der Ausschaffung können die Meinungen weit auseinandergehen. Keine Meinungsunterschiede darf es dagegen darüber geben, dass die Ausschaffungspraxis den Grundsätzen der Humanität ohne Wenn und Aber genügen muss. Menschenrechte sind nicht nur ein theoretisches Problem der grossen Politikgestaltung, sondern – zuerst und vor allem – praktischer Auftrag ihrer konkreten Durchsetzung. Zurückhaltung ist in den Augen des Kirchenbundes inkonsequent. Deswegen setzt er sich sowohl im politischen Streit wie beim staatlichen Handeln für die Durchsetzung der Menschenrechte ein.

Frage 7: Welches sind die theologisch-ethischen Massstäbe des SEK?

Menschenwürde und Menschenrechte bieten «einen Massstab, an dem das konkrete Handeln und seine normativen Orientierungen kritisch reflektiert werden können und müssen», wie der Kirchenbund in seinem Grundlagendokument ‹Den Menschen ins Recht setzen› festhält. Diese immer wieder neue Aufgabe ist mit dem Gedanken von der Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen als Gottes geliebtes Geschöpf gegeben.

Wie diese Verantwortung für Gottes Schöpfung und Geschöpfe in der demokratischen Gesellschaft wirksam werden kann, hat der Theologe Karl Barth unmissverständlich auf den Punkt gebracht: Es geht darum, «dass Christen den irdischen Staat nicht nur erdulden, sondern wollen müssen, und dass sie ihn nicht als Pilatus-Staat, sondern nur als Rechtsstaat wollen können: dass es also ein äusseres Entfliehen aus jenem anderen, dem politischen Bereich nicht gibt».

Weil es kein Christsein, keine Nachfolge, ausserhalb der Gesellschaft gibt, in der wir leben, tragen Christen in der Nachfolge Mitverantwortung für die Gesellschaft, in der sie leben. Wie diese christliche Verantwortung in der Gesellschaft aussieht, bemisst sich nicht an politischen Strategien, parteipolitischen Parolen oder persönlichen Geschmacksurteilen, sondern an der Bibel, im gemeinsamen Nachdenken und -fragen und im gemeinsamen Gebet. Das Ziel des Handelns besteht mit dem Genfer Reformator Calvin darin, «dass die Menschlichkeit des Menschen bestehen bleibt» (Inst. 1559, IV 20,3).

Frage 8: Welche Position hat der SEK gegenüber Ausschaffungen?

Ausschaffungen müssen immer die letzte der angewendeten Massnahmen sein. Dies hat der SEK bereits 2009 in seiner Vernehmlassungsantwort zur Übernahme der Rückführungsrichtlinien betont. Im Vordergrund stehen sollte die Erteilung humanitärer Aufenthaltsbewilligungen sowie die freiwillige Rückkehr und die Rückkehrunterstützung. Kommt es zu Ausschaffungen, gilt: Die Menschenwürde der Betroffenen muss gewahrt bleiben.

Grundsätzlich müssen Ausschaffungen menschenrechts- und völkerrechtskonform sowie in Übereinstimmung mit der Bundesverfassung erfolgen. Jeder Einzelfall muss sorgfältig geprüft werden.

Frage 9: Passt das Rückführungsmonitoring zur Migrationsarbeit des SEK?

Der SEK setzt sich in seinem Engagement im Migrationsbereich dafür ein, dass die Menschenwürde und die Menschenrechte aller Migrantinnen und Migranten respektiert werden. Das Monitoring der Ausschaffungen ist Teil dieses Engagements: Gerade bei zwangsweisen Rückführungen kann es zu heiklen Situationen kommen, die die Würde der Betroffenen tangieren können. Deshalb schreibt die EU in einer Rückführungsrichtlinie die Beobachtung von Ausschaffungen vor.

Der SEK äussert sich seit Jahren kritisch zu den Verschärfungen im Asyl- und Migrationsbereich. Der Schutz von Verfolgten und die Förderung der Integration von Migrantinnen und Migranten sind ihm dabei zentrale Anliegen. Die von der SEK Sommer Abgeordnetenversammlung im Juni 2011 angenommene Resolution, dass auf die Gesuche von verletzlichen Asylsuchende in jedem Fall eingetreten werden soll, auch wenn ein anderer Dublin-Staat für die Behandlung des Gesuchs zuständig wäre, verdeutlicht das Anliegen, Schutzbedürftige effektiv zu schützen. Mit der nationalen Koordination der ökumenischen Seelsorgedienste in den Empfangs- und Verfahrenszentren für Asylsuchende leistet der SEK einen konkreten kirchlichen Beitrag im Asylbereich.

Frage 10: Gibt es ein vergleichbares Engagement anderer Kirchen in Europa?

Die Evangelische Kirche in Deutschland EKD und deren Mitgliedkirchen haben an der Schaffung einer Rückführungsbeobachtung in Deutschland mitgewirkt. Laut EKD hat sich ein kontinuierlicher Diskurs zwischen der Zivilgesellschaft und staatlichen Akteuren entwickelt. Ziel ist, Transparenz in einen bisher der Allgemeinheit nicht zugänglichen Bereich zu ermöglichen. Die EKD stellt fest, dass mit ihrem Engagement die Enttabuisierung einer emotional besetzten Thematik begonnen hat. Derzeit ist in Norwegen eine vergleichbare Entwicklung zu beobachten: Die lutherische Kirche von Norwegen unterstützt die Neugründung einer NGO, die alle Rückführungen und die gesamten Rückführungsprozesse unabhängig beobachten soll.

Die Überwachung der Ausschaffungen ist auch eine zentrale Forderung der Kirchen auf europäischer Ebene. Die Churches‘ Commission for Migrants in Europe CCME hielt schon 2008 fest, dass die Zivilgesellschaft einen entscheidenden Beitrag im Ausschaffungsmonitoring leistet. Der SEK sieht sich als Teil dieses europaweiten kirchlichen Engagements.

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