Dieses Jahr feiern wir das 175-jährige Jubiläum der Bundesverfassung. Sie stellt die verfassungsrechtliche Grundlage der modernen Schweiz dar. Als solche hat sie hinter den Richtungsstreit zwischen katholisch-konservativen und freisinnig liberalen Kräften einen Schlusspunkt gesetzt. Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat bildete vor 175 Jahren den Kern einer Auseinandersetzung, ohne welche die heutige Form der schweizerischen Demokratie und die föderalistische Gestalt nicht begriffen werden kann.
Damals setzten sich die katholisch Konservativen für die Beibehaltung der mächtigen Stellung der katholischen Kirche ein. Sie waren vor allem in ländlichen Kantonen vertreten und wehrten sich gegen die Abschaffung der Einstimmigkeitsregel in der Tagsatzung. Änderungsbeschlüsse sollten nur gefasst werden können, wenn alle Kantone, auch die weniger mächtigen und häufig konservativ orientierten ländlichen Kantone geschlossen zustimmen. Sie fürchteten die Einrichtung einer starken Zentralregierung. Die Freisinnigen wollten die kirchliche Macht beschränken und orientierten sich am Vorbild des französischen Laizismus. Der zentralisierte Bundesstaat schien das geeignete Instrument, um die Trennung von Kirche und Staat durchzusetzen. Sie hatten ihre Hausmacht vor allem in protestantischen und industrialisierten Gegenden.
Noch 1845 bildete die Religionsfrage den Ausgangspunkt zahlreicher Konflikte zwischen den Kantonen. Überwiegend katholische Kantone schlossen sich daraufhin in einem Sonderbund zusammen, um ihre gemeinsamen Interessen zu verteidigen. Nachdem sie erfolglos versucht hatten, das bestehende Bündnis zu ändern, verliessen sie 1846 die Tagsatzung, was von den protestantischen Kantonen als Sezessionsversuch interpretiert wurde. Die protestantischen Kantone sahen sich daraufhin gezwungen, militärisch zu intervenieren. Im November 1847 kam es zu einem kurzen Bürgerkrieg, bei dem die Sonderbundskantone letztendlich besiegt wurden. Diese Niederlage ebnete den Weg für die Freisinnigen, um den von ihnen ersehnten, demokratisch verfassten Bundesstaat anzustreben.
Neue Konflikte entbrannten aber bald innerhalb der Freisinnigen zwischen dem etablierten liberalen Zentrum und der aufstrebenden demokratischen Linken. Die Demokraten waren skeptisch gegenüber dem Verfassungsentwurf der liberalen Befürworter und forderten die Einsetzung eines Verfassungsrates. Sie wünschten sich eine stärkere Zentralisierung und waren besorgt um das nationale Element im Ständerat. Für sie war der Verfassungsentwurf nicht progressiv genug.
Die liberalen Befürworter hingegen verteidigten die moderate Zentralisierung als grosse Errungenschaft und Ausgleich. Sie lobten den modernen Verfassungsstaat, der Presse-, Vereins- und Niederlassungsfreiheit sowie wirtschaftlichen Wohlstand versprach. Sie argumentierten, dass die Verfassungsrevision notwendig war, um das Land weiterhin erfolgreich zu führen und international wettbewerbsfähig zu bleiben.
Die konservativen Kräfte spielten während des Abstimmungskampfes eher eine Aussenseiterrolle, da sie in der Frage keine gemeinsame Haltung hatten und am Revisionsprozess kaum beteiligt waren. Sie gaben den grundsätzlichen Kampf gegen eine weitere Zentralisierung auf und kämpften stattdessen pragmatisch gegen die geplante Niederlassungsfreiheit und die Aufhebung der Bestandesgarantie für Klöster und den Jesuitenartikel. Sie befürchteten eine Schwächung der katholischen Kirche und des traditionellen Schweizerischen Systems der kantonalen Souveränität.
Der Vorschlag der Liberalen kommt schliesslich zwischen Juli und August 1848 in den verschiedenen Kantonen zur Abstimmung. Die meisten Kantone lassen an der Urne abstimmen, in Uri, Ob- und Nidwalden, Glarus und den beiden Appenzell entscheidet die Landsgemeinde, in Graubünden die Gerichtsgemeinden und in Freiburg das kantonale Parlament. Einstimmigkeit wird nicht erreicht: Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Wallis, Appenzell Innerrhoden und das Tessin lehnen den Vorschlag ab. Gemäss Bundesvertrag von 1815 hätte die neue Verfassung der Zustimmung aller Kantone bedurft. Aber die freisinnige Mehrheit stellt eine «genügende Mehrheit» fest und gibt am 12. September 1848 bekannt, dass die neue Verfassung angenommen worden ist.
Die Verfassung war in vielen Punkten fortschrittlich. Im Thema Religion suchte sie einen gut schweizerischen Kompromiss, indem sie weitestgehend auf Regelungen verzichtete. Bis heute geht sie sparsam um mit dem Thema Religion: Sie gewährt die Religions- und Gewissensfreiheit, die religiöse Versammlungsfreiheit, das Recht negativer Religionsfreiheit und delegiert die Regelung der Verhältnisse zwischen Kirche und Staat an die Kantone. Neuerdings untersagt sie den Bau von Minaretten.
Insgesamt ist die Schweiz damit gut gefahren und hat einen sinnvollen Mittelweg zwischen einem starren Laizismus und einem religionsfreundlichen Pluralismus gefunden. Trotzdem bietet das Verhältnis von Kirche und Staat immer wieder Anlass zu Diskussionen. Und ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, dass die Europäische Union die Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften und Kirchen viel aktiver gestalten will. Genügt es unter den heutigen Voraussetzungen noch, einzig die Kantone mit der Religionsthematik zu betrauen?
Über diese und weitere Fragen diskutiert die EKS-Präsidentin Rita Famos mit der Nationalrätin Marianne Binder-Keller (Die Mitte), Vincent Depaigne, Koordinator für den Dialog mit Kirchen, religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften sowie weltanschaulichen Gemeinschaften der Europäischen Union und Antonius Liedhegener, Professor für Religion und Politik an der Universität Luzern im am Dienstag, 5. August um 18:30 Uhr im Polit-Forum Bern. Eine spannende, vierteilige Serie zur Entstehungsgeschichte und den gegenwärtigen Herausforderungen der Bundesverfassung bietet der Podcast «Apropos» vom Tagesanzeiger.
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