Theologisch-ethische Überlegungen
Kriege werden mit allen Mitteln geführt, auch mit Hilfe von Statistiken. Zahlen können einen ersten Eindruck von den Dimensionen vermitteln. Im Ukraine-Krieg sind nach britischen Schätzungen bisher ca. 70.000 russische Soldaten und Söldner getötet sowie zwischen 180.000 und 240.000 russische Soldaten und 40.000 Söldner verletzt worden. Im April 2023 hatte der damalige ukrainische Verteidigungsminister die Anzahl der getöteten ukrainischen Soldaten mit unter 50.000 angegeben. Ihnen stehen laut UN-Angaben vom November 2023 mindestens 10.000 getötete ukrainische Zivilist:innen gegenüber, wobei die tatsächliche Zahl erheblich höher liegen dürfte, weil die UN nur Opfer erfasst, die unabhängig bestätigt werden. Gemäss UNHCR sind 6.3 Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet, davon über 5.9 Millionen Menschen nach Europa. Die Zahl der Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine wird mit 4.9 Millionen Menschen angegeben. Knapp 60'000 Personen aus der Ukraine haben Schutz in der Schweiz gefunden. Seit dem Terrorangriff der Hamas hat Israel im eigenen Land ca. 1.200 getötete und ca. 5.500 verletzte Personen registriert. Laut Angaben des Ministry of Health in Gaza sind durch die israelischen Militäraktionen in Gaza bisher ca. 24.500 Personen getötet und ca. 61.500 Personen verletzt worden. Gemäss ACLED Conflict Index gab es 2023 in 168 Ländern und Regionen bewaffnete Konflikte, von denen 50 als besonders schwer eingestuft werden und von denen jeder sechste Mensch der Weltbevölkerung betroffen ist. In den letzten fünf Jahren sind damit die bewaffneten Konflikte in der Welt um 22% angestiegen. In der Mitte des vergangenen Jahres zählte das UNHCR weltweit über 110 Millionen «Forcibly displaced people», das sind Personen, die unter Zwang ihre Heimat verlassen mussten, darunter 36.4 Millionen registrierte Flüchtlinge, 6.1 Millionen Asylsuchende und 62,5 Millionen Binnenvertriebene. Gemäss SIPRI beliefen sich die weltweiten Militärausgaben im Jahr 2022 auf knapp 2.2 Billionen US-Dollar, ein Anstieg um ca. 4.3 % gegenüber 2020.[5] Die Schweiz hat im Jahr 2022 5.87 Milliarden Schweizer Franken oder 0.86 % des Bruttoinlandsprodukts für militärische Zwecke ausgegeben.
Vom Krieg und erst recht gegen den Krieg zu sprechen bedeutet, über oder sogar gegen die Normalität zu reden. Ist es angesichts der ernüchternden Statistiken überhaupt normal, nicht mit der Normalität bewaffneter Gewalt im Alltag konfrontiert zu sein? Fast reflexartig sind wir davon überzeugt, dass die Schweiz und die friedlichen Länder im Westen dort sind, wo eigentlich die ganze Welt sein sollte. Aber sind wir tatsächlich der Welt voraus oder werden unsere friedlichen Verhältnisse nicht vielmehr von dem Unfrieden in vielen Teilen der Welt tagtäglich bezahlt? Ist also unser Frieden kein wirklicher Frieden, sondern lediglich die politisch und ökonomisch geschaffene und abgesicherte Friedensspitze des Eisbergs in einem gewalttriefenden Meer? Das sind dringende Fragen, die vorausgeschickt gehören, weil sie nicht Gegenstand des Vortrags sein werden. Die folgenden Überlegungen fokussieren auf das Thema Krieg und Frieden aus theologisch-ethischer Perspektive.
«Noch einmal klatschte einer eine hysterische MG-Salve in die Baumstämme, dann drehten sie ab und raupten wieder zurück ins Wäldchen. Wir rannten sofort geduckt hinter der Böschung zurück: da war der Boden rot; rot ach. Einer der alten Bauern sass stumpf und hielt den tropfenden schlenkernden Arm. Und eins der Kinder war fast völlig zerrissen von zwei Riesensplittern, Hals und Schultern, alles. Die Mutter hielt noch immer den Kopf hoch und sah wie verwundert in die fette karminene Lache. [...] Der Pfarrer tröstete die weinende Frau; er meinte: ‹Der Herr hat’s gegeben; der Herr hat’s genommen› – und, hol’s der Teufel, der Feigling und Byzantiner setzte hinzu: «Der Name des Herrn sei gelobt!» (Und sah dabei stolz auf uns arme verlorene Heiden, die schamlose Lakaienseele! – Das schuldlose Kind – Seine 2000 Jahre alten Kalauer von der Erbsünde kann er doch nur einem erzählen, der keine Krempe mehr am Hut hat: Haben diese Leute denn nie daran gedacht, dass Gott der Schuldige sein könnte?»
Die Passage aus Arno Schmidts «Leviathan oder Die Beste der Welten» schildert einen russischen Artillerieangriff auf einen Flüchtlingstreck aus Berlin nach Westen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie in einem Brennglas verdichten sich in der Szene die Herausforderungen und Schwierigkeiten eines theologisch-ethischen Nachdenkens über den Krieg: die unsägliche Brutalität und Gewalt gegen das wehrlose Kind und die ohnmächtige Mutter, der zynische Fatalismus des bibelfesten Pfarrers und die tödliche Gewalt der russischen Soldaten die aus ihrer von Opfern des deutschen Angriffskrieges übersäten und geschundenen Heimat kommen, um mit den Alliierten die Welt vom nationalsozialistischen Terrorregime zu befreien. Es ist ein intrikater Plot, weil das geschilderte Massaker bei den Lesenden eine Wut und Empörung erzeugen, die sich gegen die Täter richtet, die aus einer anderen Perspektive die Opfer des Staates sind, zu dem die in der Szene dargestellten Opfer gehören. Die moralische Aufteilung zwischen Täter:innen und Opfern hängt ab von der Perspektive, die darüber bestimmt, welche Geschichte erzählt wird. Auf den ersten Blick scheinen sich die unterschiedlichen Geschichten auf den gleichen Sachverhalt zu beziehen. Aber die Objektivität der Sachverhalte ist eine Unterstellung, die übersieht, dass Sachverhalte stets die Gegenstände der Kommunikation darüber sind und verschwinden, wenn sie nicht mehr erzählt werden. Deshalb ist (nicht nur) im Krieg der propagandistische Kampf um die Vorherrschaft der Narrative und Deutungen, um die Selbstdarstellung als Opfer und die Skandalisierung des Feindes so unverzichtbar. Daraus darf nicht automatisch auf die Unrichtigkeit oder Unglaubwürdigkeit der Narrative geschlossen werden. Denn mangels Alternative wäre es kompletter Irrsinn, pauschal all das zu verwerfen, was immerhin erzählt, worüber selbstverständlich gesprochen werden kann und was nicht anders präsent sein kann als in diesen Narrativen. Falsch ist aber der damit verbundene Anspruch, die einzig richtige Geschichte zu kennen und zu erzählen.
Neben die horizontale Differenz der Erzählperspektiven tritt die vertikale Unterscheidung zwischen der Beteiligungs- und der Beobachtungsebene. Sie zeigt sich in Gewaltkonflikten unmittelbar in der Verortung der Körper. Die Furcht vor der Bedrohung, dem Schmerz und der Zerstörung der beteiligten Person ist etwas anderes als die Angst der beobachtenden Personen, mit dem eigenen Körper eine solche Lage zu geraten. Aus vulnerabilitätstheoretischer Sicht (s. Sicherheit und Frieden von Frank Mathwig) geht es um die kategoriale Unterscheidung zwischen den erlittenen Wunden am eigenen Leib und der Bedrohung durch die eigene Verwundbarkeit. Beide Perspektiven sind real, weil sie tatsächlich bedrohlich sind. Aber während die Wunden eine Bedrohung der Person bedeuten, stellt die Verwundbarkeit eine Bedrohung der Sicherheit der Person dar. Die Differenzen zwischen Beteiligung und Beobachtung vergrössern sich noch einmal, wenn eine theoretische Perspektive eingenommen wird. Das gilt auch für das theologisch-ethische Nachdenken über Frieden und Krieg, das nicht durch eine direkte Betroffenheit und eine akute Gefahr gekennzeichnet ist, sondern von Beobachtungen ausgeht, die die Reflexion und das Urteil steuern.
Aus jüdisch-christlicher Sicht ist Frieden ein Gottesprädikat. «Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt.» (Joh 14,27) Im ethischen Zentrum des Christentums stehen die Aufforderung aus der Bergpredigt Jesu: «Liebet eure Feinde» (Mt 5,44) und die Verheissung «Selig, die Frieden stiften, sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden.» (Mt 5,9) In beiden Testamenten begegnet die Ausweitung der Nächsten- auf die Fremdenliebe als jüdisch-christliche Eigenart gegenüber der kulturellen Umwelt (vgl. Lev 19,18.33f.; Dtn 10,18f.; Mt 5,43–48; Lk 6,27–35; 1Kor 4,12; Lk 10,29–37). Jesus universalisiert die Nächstenliebe, indem er sie durch die Feindesliebe auf jede Person ausweitet und Vergeltungsverzicht (Mt 5,38–48) einfordert. In der Weihnachtsgeschichte wird die Geburt Jesu als «Friede auf Erden» (Lk 2,14) angekündigt, Paulus bezeichnet Christus als «unseren Frieden» (Eph 2,14) und viel neutestamentliche Briefeinleitungen beginnen mit dem jüdischen Friedensgruss, der in den Gegrüssten schalom bewirkt (Gen 43,27f.).
Frieden kann aus biblisch-theologischer Sicht nicht «geschaffen» oder «hergestellt», sondern muss gestiftet werden. Die Bibel versteht darunter keinen politischen Status oder gesellschaftlichen Zustand, sondern eine heilvolle Gesamtordnung, die in der Beziehung Gottes mit seiner Schöpfung gründet. Der Gott Israels ist der Gott des Friedens. Schalom bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krieg, Feindseligkeiten und Zwietracht, sondern «einen lebensförderlichen Zustand in der Gemeinschaft von der Familie bis zum Volk und Völkerwelt, die segensreiche Interaktion zw[ischen] Mensch und Natur sowie die Versöhntheit zw[ischen] Gott und Mensch. Es kann ein Leben in F[rieden] nur geben, wenn šalôm in allen diesen Interaktionsfeldern, die unlösbar miteinander verknüpft sind, herrscht». Im Ersten Testament gehören Frieden und Gerechtigkeit untrennbar zusammen. «[E]s küssen sich Gerechtigkeit und Friede» (Ps 85,11). «Und das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit für immer.» (Jes 32,17) Eschatologische, politisch- und tugendethische Aspekte können sich verbinden: «Und er wird Recht sprechen zwischen den Völkern und Weisung geben den Nationen; und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Spiesse zu Rebmessern. Kein Volk wird wider das andere das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.» (Jes 2,4) Gegen die Gewalt und Friedlosigkeit der Welt fordern die beiden Testamente: «suche Frieden und jage ihm nach» (Ps 34,15) und «dem Frieden jagt nach mit allen» (Hebr 12,14). Die biblische Rede vom Frieden «appelliert an eine Tiefendimension der Erfahrung und des Selbstverständnisses, die allem Handeln und aller Handlungsrationalität voraus liegt, sie aber eben deshalb neu ausrichten und orientieren kann».
Bekanntlich geht es in der Bibel längst nicht nur friedlich zu. Im Ersten Testament erscheint Gott als Kriegsheld, als Herr und Mann des Krieges (Ex 15,3), lässt friedliche Völker abschlachten (Mi 4,13) und wie ein Dreschwagen zermalmen (Jes 41,15) oder König Menachem alle Schwangeren aufschlitzen (2Kön 15,16). «Gott rottet aus, vernichtet, reisst nieder, schlägt, zerschmettert, durchbohrt, tötet, schlachtet, macht kinderlos, frisst, verschlingt, zerreisst, macht krank, lässt hungern und verhungern, […] zerstreut, vertreibt, führt ins Exil, verwirrt, verlässt, entblösst, schert, stiftet Brand, vergilt, versucht, reicht den Becher des Zorns und verurteilt.» Holzschnittartig kann im Ersten Testament ein dreifaches Verständnis von Gewalt unterschieden werden: Sie wird entweder (1.) ontologisch als Ausdruck der geschöpflichen Sündhaftigkeit gedeutet (prototypisch im Brudermord Kains an Abel, Gen 4) oder (2.) subjektiv als Verstoss gegen die göttlichen Gebote (der Rachemord Moses’ am ägyptischen Aufseher, Ex 2,11f.; Davids heimtückischer Tötungsplan für Urija; 2Sam 11) oder (3.) relational als Ausdruck eines expliziten Gottesauftrags und einer besonderen Gottesnähe oder -begabung (Esthers Anordnung eines Massakers gegen die Feinde ihres Volkes, Esther 8f.; das Selbstmordattentat Simsons, Ri 16). Die Beurteilung von Gewalt hängt nicht von den Handlungen ab, sondern von deren Autorisierung. Gewalt wird geächtet, wenn sie aus menschlichen Affekten, Motiven und Gründen erfolgt. Grundsätzlich stellt ein Verbrechen aus jüdisch-christlicher Sicht ein Vergehen gegen Gott selbst und seine Gebote dar. Gott setzt nicht nur das Recht, er setzt es auch durch und sanktioniert es als Richter entweder sofort (jüdisch) oder am Ende (christlich). Daneben begegnet Gewalt als Ausdruck des Gottesgehorsams, wenn Gott selbst durch die Person handelt und damit seine Gegenwart bestätigt. Ein solches Verhalten im Auftrag Gottes unterscheidet sich in den Handlungen nicht von einem Verbrechen. Dadurch erzeugt das biblische Gewaltverständnis eine moralische Irritation: Gewalt ist verboten und wird bestraft, es sei denn, dass sie auf ausdrückliche Anordnung Gottes geschieht.
Gewalt ist im Ersten Testament keine Frage der Moral, sondern der Gerechtigkeit. Menschliches Handeln muss mit den geltenden Gesetzen übereinstimmen. Das hindert die Propheten nicht daran, rein legalistische Vorstellungen von Gerechtigkeit massiv anzuprangern. Denn Gerechtigkeit zielt auf eine lebensförderliche Beziehungspraxis. Entsprechend wird der hebräische Ausdruck für Gerechtigkeit (hebr. zdq, zedaqah) mit «Gemeinschaftstreue» übersetzt. Gott hält seinem Volk und seiner Schöpfung die Treue. Der stärkste Ausdruck für dieses einseitige, durch Gott gegebene Loyalitätsversprechen ist der «Bund». Wenn Gott Abraham die Gabe des Landes zusagt (Gen 15,17f.), dann gilt dieses Versprechen absolut und unabhängig davon, ob Israel seine Bundesverpflichtungen hält oder bricht. Der Noah-Bund (Gen 9) kennt keine wechselseitigen Vertragspartner:innen, sondern wird einseitig von Gott geschlossen und hängt ausschliesslich an der Treue Gottes gegenüber seinem Volk und seiner Schöpfung. Gerechtigkeit und Treue Gottes bilden die untrennbare Einheit des «ewigen Bundes» (Gen 17,7.13; Ex 31,16). Gewalt und Frieden gehören zu einer Dreieckskonstellation mit den Eckpunkten Gewaltlosigkeit/Gewalt – Frieden – Recht/Gerechtigkeit. Frieden bezeichnet ein komplexes und konflikthaftes Verhältnis von Gerechtigkeit und lebensfördernder Beziehungshaftigkeit, das nicht der Gewalt kategorisch gegenübersteht, sondern die Möglichkeit göttlich autorisierter Gewalt einbezieht. Die Struktur der Dreieckskonstellation bildet der Segensbund Gottes mit seinem Volk und seiner Schöpfung.
Leitend für das christliche Friedensethos sind die Bergpredigt und Feldrede Jesu, sein exemplarisches Handeln und das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,25–37). Allerdings vermitteln auch diese Grundlagentexte ein differenziertes Bild. Das bekannteste Gleichnis Jesu ist in der Gegenwart zum Synonym für eine christliche Moral geworden. Es verdeutlicht aber auch ihr handfestes Dilemma, weil die beispielhaft gelebte Nächstenliebe auf eine prekäre Verkürzung der realen Lebensverhältnisse hinausläuft. Nüchtern betrachtet springt das Gleichnis erst reichlich spät auf den fahrenden Zug menschlicher Gewalt und Ungerechtigkeit auf. Das Verbrechen und Unrecht sind bereits geschehen, bevor der barmherzige Samaritaner auftritt. Die gängigen moralischen Deutungen verlieren bezeichnenderweise kein Wort über die Gewaltverursacher, die «Räuber». Merkwürdigerweise sind die «Räuber», denen der Mann auf dem Weg nach Jericho zum Opfer fällt, auf schicksalhafte Weise immer schon da. Die eigentlichen Gewalttäter:innen sind die vom Gleichnis verschwiegenen Anderen. Es verliert kein Wort über die Gewaltstrukturen und -praktiken, die die Opfer hervorbringen, sondern konzentriert sich vollständig auf den Umgang mit den Folgen. Das ist unproblematisch, solange die Deutungen des Gleichnisses darauf beschränkt bleiben. Die Kirchen- und Theologiegeschichte haben den Fokus aber regelmässig ausgeweitet und mit dem Gleichnis das Verbot begründet, gegen die Ursachen von Gewalt und Ungerechtigkeit zu kämpfen.
Das Schweigen darüber, dass die Gewalt mit den «Räubern» in die Welt kommt, wirft eine Frage auf, die Jesus nicht stellt: Wie hätte der barmherzige Samaritaner gehandelt, wenn er zur Tatzeit am Ort des Geschehens gewesen wäre und die «Räuber» auf frischer Tat ertappt hätte. Wäre er dann immer noch als das Barmherzigkeitsparadigma in die westliche Moralgeschichte eingegangen? Hätte er gewartet bis die Prügelei vorbei ist, um nicht in die moralische Bredouille zu kommen? Oder hätte er die pazifistische Haltung von Mahatma Ghandi und Bertha von Suttner eingenommen? Oder wäre er wie Harry Callahan in «Dirty Harry» und Beatrix Kiddo in «Kill Bill» gnadenlos dazwischengegangen? Es ist schwer nachvollziehbar, warum die Nächstenliebe das gleiche Verhalten gegenüber Gewaltopfern einfordern sollte, wie gegenüber den Gewalttäter:innen. Das liefe auf eine Moral der notorischen Verspätung hinaus, die die Ursachen von Ungerechtigkeit und Gewalt verschläft, oder auf eine Besenwagenmoral, die sich darauf beschränkt, die Scherben zusammenzukehren und die Wunden zu kurieren. Und Aron Ronald Bodenheimer hätte ergänzt: «Vor allem wollen die gewaltlos-gewalttätigen Rufe dies eine nicht wahrnehmen: dass der Friede der einen je und je erkauft wurde mit dem Unfrieden der anderen.»
Auch andere Äusserungen Jesu zur Gewalt sind differenziert zu beurteilen. Zwar verwirft er bei seiner Gefangennahme in Getsemani (Mt 26,47–56) den gewalttätigen Widerstand durch einen Jünger: «Steck dein Schwert an seinen Ort! Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.» (Mt 26,52) Aber er begründet den Verzicht auf Selbstverteidigung mit zwei unerwarteten Argumenten. Die erste Begründung ist ausdrücklich nicht pazifistisch, sondern machtstrategisch: «Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel zur Seite stellen?» (Mt 26,53) Damit formuliert Jesus eine konstitutive Bedingung für den Gewaltverzicht: Auf Gewalt kann nur verzichten, wer darüber verfügen kann, sonst wäre es kein Verzicht, sondern ein Zwang aus Ohnmacht. Deshalb macht es einen fundamentalen Unterschied, ob eine Person zum Gewaltopfer wird, weil sie freiwillig auf ihre Selbstverteidigung verzichtet, oder weil sie sich schlicht nicht dagegen wehren kann. Der freiwillige Verzicht Jesu, sich selbst zu verteidigen, steht auch hinter der zweiten Begründung: «Doch wie würden dann die Schriften in Erfüllung gehen, nach denen es so geschehen muss?» (Mt 26,54) Mit keinem Wort erwähnt er das naheliegendste Argument aus der fünften Antithese seiner Bergpredigt (Mt 5,38–42): «Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.» (Mt 5,39f.) Ulrich Luz hat die Forderungen als «ein Stück bewusster Provokation» gedeutet. «Es geht um Verfremdung, um Schockierung, um einen symbolischen Protest gegen den Regelkreis der Gewalt. Ihre Evidenz haben sie nicht darin, dass das von ihnen geforderte Verhalten plausibel wäre». Diese Deutung liegt nahe, weil die Impulse Jesu «[n]irgendwo, vielleicht nicht einmal bei Matthäus, […] in voller Schärfe durchgehalten» wurden.
Das gilt erst recht für die Rezeptionsgeschichte. Die radikale Linie einer konsequenten Nächstenliebe-Praxis reicht bis zur Konstantinischen Wende und begegnet anschliessend nur noch im Schatten der staatstragenden Grosskirche. Seit der Reformation stehen sich der staatstragende Pragmatismus der grossen Konfessionskirchen und täuferische sowie bestimmte calvinistische Strömungen gegenüber, die zum radikalen Anspruch der frühchristlichen Gemeinden zurückkehren. Die Verschärfung der Sünden- und Rechtfertigungslehre und der Kampf gegen täuferische Kreise führen dazu, dass in der Reformation «zum ersten Mal die Töne [überwiegen], die die Unerfüllbarkeit der Bergpredigt betonen». Die Nächsten- und Feindesliebe wird entweder unter die paulinische Gesetzeskritik subsumiert oder als eine Form der Werkgerechtigkeit diskreditiert oder auf eine individualistische Privatmoral reduziert. Ulrich Luz resümiert, dass es «im Bereich der Reformationskirchen zu einer wirklichen Praxis des Christentums von der Bergpredigt her weithin nicht gekommen ist» und fährt fort: «Keine Bergpredigtauslegung war jemals ganz davor geschützt, das zu rechtfertigen, was in der Kirche zu ihrer Zeit faktisch geschah.» Dessen ungeachtet vermag aber das radikale Nebeneinander von Gewaltverzicht und Liebesforderung «die christliche Liebe an ihre Herkunft aus dem Reich Gottes […] zu erinnern» und sie «davor zu bewahren, nur weltliche Überlebenshilfe zu sein».
Mit Berufung auf die Bergpredigt verweigerten die urchristlichen Gemeinden den Waffendienst, Soldateneid und die Kaiseranbetung und die Kirche stellt sie noch zu Beginn des vierten Jahrhunderts unter Strafe. Aber diese Bestimmungen werden wenige Jahre später relativiert. Ein tiefer Einschnitt bedeutet die Einnahme Roms durch Alarich im Jahr 410, die Augustinus miterlebt und auf die er mit einer theologischen Begründung des Kriegsdiensts und Verteidigungskriegs reagiert. Die Konstantinische Wende, die das Christentum zur Staatskirche erhebt, rückt das Thema Frieden und Krieg in einen neuen Horizont. Vor dem Hintergrund des neuen Begriffs der Sicherheit (securitas) wird nun unterschieden zwischen legitimer staatlicher Herrschaft (potestas der auctoritas principis) und illegitimer Gewalt (violentia). Die negative Gewalt soll mit positiver Gewalt bekämpft werden. Dazu gehört auch der Krieg als staatliches Gewaltmittel zum Schutz des eigenen Staatsgebiets gegen Angriffe von aussen. Augustinus‘ Kriterien des «rechtmässigen Krieges» (bellum iustum) bilden den Ausgangspunkt für eine über Thomas und Aquin, die reformatorischen Theologen und ihre Nachfolger bis heute geführte Diskussion. In einer aktuellen Formulierung der «Ethik der rechtserhaltenden Gewalt» lauten sie:
Kriterien zum Krieg (ius ad bellum):
1. Gibt es eine rechtmässige politische Vollmacht (legitima potestas)?
2. Gibt es einen gerechtfertigten Grund (causa iusta)?
3. Wird mit der Gewaltanwendung ein anders nicht zu bekämpfendes grösseres Übel verhindert (recta intentio)?
4. Ist die rechtserhaltende militärische Gewalt das äusserste Mittel (ultima ratio)?
5. Rechtfertigt das Ziel die angewandten Gewaltmittel (iustus finis)?
Kriterien im Krieg (ius in bello):
6. Ist der Einsatz der militärischen Mittel verhältnismässig (proportionalitas)?
7. Unterscheidet der Gewalteinsatz zwischen kämpfenden und zivilen Personen unterschieden (discriminatio)?
7. Gerechter Frieden
Eine neue Dynamik des politischen, rechtlichen, kirchlichen und theologischen Nachdenkens über Frieden und Krieg setzt im 20. Jahrhundert ein, dem grausamsten und brutalsten Zentennium der Menschheitsgeschichte. Ökumenisch wegweisend wurde der Vortrag von Dietrich Bonhoeffer auf der Tagung des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirche im August 1934 in Fanø: «Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? d. h. durch die Grossbanken, durch das Geld? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine grosse Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heisst Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg. Sicherheiten suchen heisst sich selbst schützen wollen. Friede heisst sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes, keine Sicherung wollen, sondern in Glauben und Gehorsam dem allmächtigen Gott die Geschichte der Völker in die Hand legen und nicht selbstsüchtig über sie verfügen wollen.» Die glasklaren Aussagen stehen vor dem Hintergrund des deutschen Nationalsozialismus, der Gleichschaltung der Kirchen, eines kriegsbegeisterten, nationalistischen Neuluthertums und einer fatalen Appeasement-Politik der internationalen Staaten gegenüber Deutschland.
Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs stellt Karl Barth nüchtern fest: Wer heute über den Krieg spricht, muss wissen, «dass er schlicht und eindeutig töten sagt: töten ohne Glanz, ohne Würde, ohne Ritterlichkeit, ohne Schranke und Rücksicht nach irgendeiner Seite. […] Die Möglichkeit der Atom- und Wasserstoffbombe hat eigentlich nur noch gefehlt, um die Selbstenthüllung des Krieges in dieser Hinsicht vollständig zu machen.» Deshalb habe die alte Römerweisheit «Si vis pacem para bellum!» – Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor – endgültig ausgedient. An die Stelle müsse die entgegengesetzte Einsicht treten: «Si non vis bellum, para pacem! [Wenn du Krieg nicht willst, bereite Frieden vor] Sorge für eine bessere Organisation des Friedens!» «Zur normalen Aufgabe des Staates gehört es nach christlicher Erkenntnis seines Wesens gerade nicht, Krieg zu führen, sondern seine normale Aufgabe besteht nach ihr darin, den Frieden so zu gestalten, dass er dem Leben dient, den Krieg aber gerade fernhält.» Dafür braucht es «christlichen Glauben, Verstand und Mut […] – und dazu ist die christliche Kirche, die christliche Ethik da, solchen zu beweisen – den Völkern und Regierungen zuzurufen, dass umgekehrt der Friede der Ernstfall ist: der Fall nämlich, in welchem – nur wirklich ‹zum vornherein› – alle Zeit, alle Kraft, alles Vermögen dafür einzusetzen sind, dass die Menschen leben, und zwar recht leben können, um dann zur Flucht in den Krieg keinen Anlass zu haben, d. h. um dann nicht vom Kriege erwarten zu müssen, was ihnen der Friede verweigert hat.» Der Kirche kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Sie tritt ein «für Treue und Glauben auch in ihren Beziehungen untereinander […], für solide, vertragsmässige Verständigungen, und für deren Innehaltung, für Schiedsgerichte und internationale Zusammenschlüsse, […] für die Aufgeschlossenheit, für das Verständnis, für die Geduld den anderen gegenüber, für eine solche Erziehung der Jugend, die ihr den Frieden und nicht den Krieg lieb macht, […] und gegen alle hetzerische Hysterie, d. h. gegen alles voreilige An die Wand malen jenes anderen, des kriegerischen Ernstfalls». Das schliesst den Kriegsfall als ultima ratio nicht aus, in dem die Kirche aber niemals die «Sprache der Propaganda» der «mutwillig Aufregenden» und der «von ihnen verführten Aufgeregten» übernimmt, sondern «zuerst und vor Allem diese distanzierende, diese hinausschiebende Bewegung» macht.
Karl Barths völkerrechtliche und zivilgesellschaftliche Verschränkung der Friedensaufgabe nimmt eine Entwicklung vorweg, die nach der ohnmächtigen Zuschauerrolle der Weltgemeinschaft bei den Massakern in Ruanda 1994 und Srebrenica 1995 einsetzt und in das Konzept der Responsibility to Protect mündet. Im Zentrum steht die Überlegung, dass staatliche Souveränität «nicht allein die Unabhängigkeit (Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten) und Selbstbestimmung» beinhaltet, sondern «sich zugleich an der Souveränität seiner Bürger messen lassen [muss]. Das schliesse den Schutz der Bevölkerung mit ein. Sind Staaten nicht in der Lage oder willens, dem Schutz ihrer eigenen Bevölkerung nachzukommen, geht diese Verantwortung an die internationale Gemeinschaft.» Daraus erwachsen drei wesentliche Aufgaben: 1. Prävention (responsibility to prevent), 2. Reaktion (responsibility to react) und 3. Wiederaufbau (responsibility to rebuild), wobei der Verpflichtung zur Gewaltprävention Priorität zukommt. Den sich ergänzende Aufgaben von Staat und Bevölkerung entspricht der Trias Barths von Recht, Frieden und Freiheit. Frieden besteht nicht schondann, wenn staatliches Recht gilt oder wiederhergestellt ist, weil eine Rechtsordnung höchst gewalttätige, bedrückende und prekäre Verhältnisse hervorbringen und zementieren kann. Gegen eine solche Formalisierung setzt Barth sein drittes Kriterium des Friedens. Frieden herrscht erst dann, wenn eine Rechtsordnung die Freiheit aller ihr unterworfenen Personen tatsächliche garantiert.
Der Ukraine-Krieg hat die theologische Friedensethik offensichtlich auf dem falschen Fuss erwischt. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs waren sich die weltweiten christlichen Kirchen darüber einig geworden, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll und angesichts der monströsen atomaren Waffenarsenale nicht sein darf. Die Haltung, die die westeuropäischen Kirchen in ihren offiziellen Stellungnahmen bis heute beibehalten haben, wird von akademisch-theologischer Seite schon länger hinterfragt und hat durch den Ukraine-Krieg zusätzlich Nahrung erhalten. Die Kritik richtet sich vor allem gegen die von der EKD vertretene Ethik der rechtserhaltenden Gewalt, die – zugespitzt – auf der Idee beruht, die Strukturen und Funktionen des nationalen demokratischen Rechtsstaats auf die internationale Staatenwelt zu übertragen, und an Karl Barths Trias von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit anschliesst.
Rechtserhaltende Gewalt setzt auf ein ausgebautes internationales Rechtssystem mit hoher Bindungskraft, Durchsetzungs- und Sanktionsmacht. All das trifft auf die Völkerrechtsinstitutionen, allen voran auf den UN-Sicherheitsrat mit dem Vetorecht der ständigen Mitglieder, nur in mehr oder weniger eingeschränkter Weise zu. Viele der nach 1945 geführten bewaffneten Konflikte verletzten zumindest formell die Ächtung des Krieges in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta und die in Kapitel VII der UN-Charta (Art. 39–51) festgeschriebenen «Massnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen». Diese völkerrechtliche Wirklichkeit werde vom Konzept des gerechten Friedens mit den Mitteln rechtserhaltender Gewalt ausgeblendet. Verkannt werde auch die Tatsache, dass «bisweilen doch auch eine rechtsschaffende Gewalt notwendig ist […]. Es kann Situationen geben, in denen es geboten ist, frühzeitig und energisch mit militärischen Mitteln gegen jene vorzugehen, die systematisch das Leben anderer Menschen bedrohen oder vernichten». Für den Wiener Theologen Ulrich Körtner vermischt das Konzept des gerechten Friedens «die biblische Hoffnung auf das Reich des göttlichen Friedens mit der Utopie einer auf die Vereinten Nationen bauenden Weltfriedensutopie». Die Schwächen des Völkerrechts – genauer: die Missachtung durch die kriegführenden Staaten – haben zu einer Renaissance nicht nur der Lehre vom gerechten Krieg, sondern auch der Doktrin der nuklearen Abschreckung geführt. Die theologische Diskussion schliesst an die «Heidelberger Thesen zur Frage von Krieg und Frieden im Atomzeitalter» von 1959 an. Vor dem Hintergrund der Kontroverse über die Zulässigkeit oder das Verbot der nuklearen Abschreckung, an der die Evangelische Kirche in Deutschland zu zerbrechen drohte, hatte eine interdisziplinäre Kommission 11 Thesen erarbeitet, die von der Kirche als gemeinsame Position übernommen wurde. Kontrovers ist besonders die sechste These, nach der «die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln» verstanden werden müssten. Auf den aus der Quantenphysik übernommenen Begriff der Komplementarität berufen sich auch aktuelle theologische Beiträge. Eine verantwortungsvolle Friedensethik müsse auf die Formel hinauslaufen: «Hope for the best, prepare for the worst.» Körtner resümiert: «Die Vorstellung einer feindlosen Demokratie hat sich als Illusion erwiesen. Der Feind des Westens ist nicht das russische Volk, wohl aber seine Führung. So wichtig alle Schritte zur Deeskalation und die Suche nach diplomatischen Lösungen sind, es wäre naiv und gegenüber den Menschen in der Ukraine verantwortungslos, Putin und seinen Gefolgsleuten zu versichern, dass wir sie nicht als Feinde betrachteten. Wer Jesu Gebot, seine Feinde zu lieben, befolgen will, muss überhaupt wissen, wer seine Feinde sind und wer nicht.»
Das sind neue Töne in der theologischen Friedensethik: «Feinde», «nukleare Abschreckung» oder «Zuckerwattewelt», in der der emeritierte Zürcher theologische Ethiker Johannes Fischer die kirchliche Friedensethik verortet. Was gegen die Kirche gerichtet scheint, bedeutet in der Sache eine Infragestellung der von der Antike und dem Mittelalter, über die Reformation und Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert reichenden politischen, rechtlichen und ethischen Bemühungen um die Überwindung des Krieges durch eine globale Völkerrechtsordnung. Es gehört zur Denkhektik in turbulenten Zeiten, dass beim Anstossen nach vorne aus dem Blick gerät, was damit hinten umgestossen wird. In der theologischen Friedensethik findet aktuell eine Perspektivenverschiebung von «Frieden» zur «Sicherheit» statt, die Christopher Daase auch der Politik bescheinigt: «Sicherheit ist der zentrale Wertbegriff unserer Gesellschaft. Das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren konkurrierten die Begriffe ‹Sicherheit› und ‹Frieden› um den Vorrang in Strategiedebatten und Parteiprogrammen. Heute ist ‹Sicherheit› der Goldstandard nationaler und internationaler Politik, und vom Frieden wird fast nur noch in politischen Sonntagsreden gesprochen.» Damit werden Kirche und Theologie nochmals auf dem falschen Fuss erwischt, weil das Thema «Sicherheit» in Bibelwissenschaften, Theologie und Ethik keine nennenswerte Rolle spielt. (vgl. Text von Frank Mathwig zu Sicherheit und Freiheit)
Die aktuelle Diskussion folgt dem abgenutzten Streitmuster von Gesinnungs- versus Verantwortungsethik und Prinzipien- versus Folgenorientierung. Dazu gehört aus theologischer Sicht die von Bonhoeffer übernommene Formel von der Bereitschaft zur Schuldübernahme. Exemplarisch formuliert die EKD «In Situationen, in denen die Verantwortung für eigenes oder fremdes Leben zu einem Handeln nötigt, durch das zugleich Leben bedroht oder vernichtet wird, kann keine noch so sorgfältige Güterabwägung von dem Risiko des Schuldigwerdens befreien.» Was ist damit gemeint? Ginge es um die Alltagsweisheit, dass wo gehobelt wird auch Späne fallen, wäre der theologische Hinweis trivial. Wird auf die eigene Gewissensbindung gegenüber Gott angespielt, dann geraten Gewissensforderungen und ethische Pflichten miteinander in Konflikt und stellen die Person vor die Wahl Gewissenskohärenz oder Schuld. Geht es um die Dringlichkeit eines Handelns im Blick auf die Betroffenen, dann wechselt die normative Referenz: Es geht gar nicht darum, wie eine handelnde Person mit sich in Übereinstimmung sein kann und bleibt, sondern darum, was nach bestem Wissen und Gewissen getan werden muss, um ihre personale Integrität zu verteidigen und zu schützen. Bei Entscheidungen, die die Lebensbedingungen von Dritten, der Allgemeinheit und Gesellschaft betreffen, zählt das sachlich kompetente, argumentativ wohlerwogene und ethisch besonnene Urteil. Ihm ist die Gewissensfrage der eigenen Person allenfalls nachgeordnet. Die Verantwortung gegenüber den Personen, die die Folgen für ein Handeln und Nichthandeln zu tragen haben, lässt sich nicht mit der persönlichen Gewissensbindung im Blick auf dieses Handeln und Nichthandeln verrechnen. Denn: «Nicht das Subjekt setzt sich die Aufgabe, sondern die Aufgabe konstituiert das Subjekt.» Oder theologisch gewendet mit Karl Barth: Das ethische Subjekt ist aus theologischer Sicht «der geheiligte Mensch, der nicht das Subjekt, wohl aber das Prädikat der Aussagen der theologischen Ethik ist. Er ist Gottes Geschöpf, er ist in Christus begna-digter Sünder, er ist Erbe des Reiches Gottes, weil und sofern ihn Gott als das Alles in Anspruch nimmt.» Die theologische Rede von Schuld beruht auf der falschen Unterstellung, dass ein sachlich-rationales, ethisch begründetes und moralisch gerechtfertigtes Urteilen, Entscheiden und Handeln notwendig aus anderen Quellen schöpft, als die persönliche Gewissensorientierung. Die seltsame Annahme verdankt ihre weitgehend kritiklose Übernahme einer in der theologischen Tradition eingeübten Zwei-Welten-Theorie.
Auf eine solche Rückzugsposition zu verzichten, bedeutet umgekehrt, Spannungen, Inkohärenzen und Ambivalenzen nicht zu nivellieren, sondern als unhintergehbares Merkmal von herausfordernden, existenziellen und Grenzsituationen anzuerkennen. Ein Beispiel dafür ist Karl Barths Brief an den Prager Theologen Josef Hromádka wenige Tage vor der Annexion der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland im Oktober 1938: «Merkwürdige Zeiten, lieber Herr Kollege, in denen man bei gesunden Sinnen unmöglich etwas Anderes sagen kann, als dass es um des Glaubens willen geboten ist, die Furcht vor der Gewalt und die Liebe zum Frieden entschlossen an die zweite und die Furcht vor dem Unrecht, die Liebe zur Freiheit ebenso entschlossen an die erste Stelle zu rücken!» In dem Brief weist Barth den tschechoslowakischen Soldaten im Widerstand gegen Hitler die gleiche Stellvertretungsrolle für Europa zu, die heute dem ukrainischen Kampf um die eigene staatliche Souveränität gegen dir Russische Föderation attestiert wird. Die Briefzeilen gehen nicht konfliktfrei mit den eben skizzierten friedensethischen Überlegungen Barths zusammen. Darin zeigt sich eine Ambivalenz, die immer dann auftritt, wenn begründete Überzeugungen auf reale Situationen treffen, in denen sie weder aufgehoben noch als Irrtum entlarvt werden, aber nur gebrochen oder sogar nur kontrafaktisch orientieren können. Barth bemüht sich in einem wenig später geschriebenen Brief um eine Präzisierung: «Die Kirche kann die Diktatur erleiden müssen. Der politische Raum, den sie allein bejahen, gutheissen und wollen kann, ist aber der der Ordnung und der Freiheit.» Aus der bemerkenswerten Unterscheidung zwischen dem, was der Kirche und was dem Staat zugemutet werden darf oder muss, lassen sich Rahmenbedingungen für eine Friedensethik aus kirchlicher und theologischer Sicht ableiten:
1.Ein Pazifismus als christliche Tugendist eine achtenswerte Haltung von Personen;
2. ein Rechtspazifismusauf der Grundlage eines robusten Völkerrechts, in dem Kriege keine Berechtigung und keinen Platz haben, ist ein erstrebenswertes Ziel der globalen Zivilgesellschaft;
3. ein Pazifismus als staatliches Prinzip würde die Bürger:innen im Ernstfall auf das Martyrium verpflichten;
4. die persönliche Haltung und das staatliche Handeln sind inkommensurabel, weil der Staat kein allgemeines Recht hat, eine Person auf ihr Leiden und ihren Tod zu verpflichten.
Diesen Leitplanken gelten auch für öffentliche Äusserungen der Kirche zu Frieden und Krieg, die den berechtigten Anspruch gesellschaftspolitischer Relevanz erheben. Innerhalb dieses normativen Rahmens sind viele Argumente und Positionen möglich. Darüber hinaus erlauben die Leitplanken, die Zweifel wachzuhalten, die solche Grenzentscheidungen notwendig begleiten. Und die sind angebracht gegenüber einer Sicherheitspolitik, die immer noch mit dem elitären Habitus eines Geheimwissens auftritt. An ein symbolträchtiges Ereignis erinnert Peter Ustinov: Am 4. Februar 2003 betritt «der US-amerikanische Aussenminister Colin Powell das UNO-Gebäude, um in Begleitung des redlichen Waffeninspekteurs Dr. Hans Blix vor den Mikrofonen der internationalen Presse für den amerikanisch-britischen Krieg gegen den Irak zu werben. Im Foyer des UNO-Hauses hängt seit Jahren eine von Nelson Rockefeller gestiftete Tapisserie von Picassos ‹Guernica›. Als Powell eintrifft, ist es von einem blauen Vorhang mit UN-Logos verhüllt. Denn die Schrecken, die das berühmteste Antikriegsbildes 20. Jahrhunderts beschwört, diese Schrecken würden im Krieg gegen den Irak zum Alltag gehören. Auch dieser Krieg, von der Propaganda der Angreifer zynisch als ‹chirurgisch sauber› angekündigt, würde Menschenleben in der Zivilbevölkerung kosten: sterbende Frauen und schreiende Kinder. Da konnte man sich kein Panorama leisten, das diese Wahrheit symbolisiert. Nichts sollte und durfte die Lüge stören.»
Dieser Vortrag wurde von Frank Mathwig in der Erwachsenenbildungsreihe 2024 «Ernstfall Frieden» der Reformierten Kirchgemeinde Frutigen gehalten. In Aeschi am 23.01.2024.
Text mit Fussnoten und Quellenangaben:
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