Flüchtlingspolitik zwischen Moral, Kirche und Recht
«Was für einen Sommer magst du?» fragt die kroatische Tourismushomepage croatia.hr und schlägt unter anderem vor: «Hedonismus ohne Reue». Seit 2016 ist das Land weniger wegen seiner Lebenslust als wegen seiner rigiden und menschenrechtlich prekären Asyl- und Migrationspolitik in den Schlagzeilen. Davon sind auch knapp 1.000 Flüchtlinge betroffen, die über Kroatien in die Schweiz eingereist sind und vom Sekretariat für Migration (SEM) dorthin zurückgebracht werden sollen. Das stösst auf energische Kritik von NGO’s und kürzlich von zwei Reisegruppen, die in Kroatien und zu «Hotspots der europäischen Migration auf der sogenannten ‹Balkanroute› unterwegs waren und ihre Erlebnisse dokumentiert haben. Der eine Reisebericht ist an «unsere kirchlichen Behörden und kirchlich engagierte Menschen» adressiert und will – mit deutlich biblischem Tonfall – «Zeugnis ablegen davon, was wir gehört und gesehen haben». Der andere Bericht fordert im Namen der «Kirchen» das SEM auf, «auf die Asylgesuche der knapp 1000 Geflüchteten einzutreten».
Im politischen Streit über den Dublin-Staat Kroatien geht es im Kern um die asylrechtliche Beurteilung des Umgangs mit schutz- und asylsuchenden Personen, die über die kroatische Aussengrenze in den Dublin-Raum kommen. Die Dublin-III-Verordnung (Dublin-III-VO) bestimmt, dass eine Person nur in einem einzigen Dublin-Staat (Art. 2 Abs. 1 Dublin-III-VO) einen «Antrag auf internationalen Schutz» (Art. 2. Lit. b Dublin-III-VO) stellen darf. Grundsätzlich gilt: Unabhängig davon, wo sich die Person im Dublin-Raum aufhält, «ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig» (Abs. 2 Art. 2 Dublin-III-VO). In gegenseitiger Absprache ersucht der nicht-zuständige Dublin-Staat, in dem sich die Person aktuell befindet, den zuständigen Mitgliedstaat um die Überstellung der Person zur Bearbeitung ihres Antrags (Art. 29 Dublin-III-VO). Von diesem Mechanismus kann abgewichen werden, entweder, weil die Person ihren Antrag zurückzieht, ein anderer Mitgliedstaat das Verfahren – in der Regel aus humanitären Gründen – übernimmt (Selbsteintritt) oder ein zurückgezogenes oder wegen Fristüberschreitung beendetes Verfahren wieder aufgenommen wird. Auf dieser rechtlichen Grundlage und in Übereinstimmung mit Art. 31a Abs. 1 Bst. b und Art. 44 AsylG (Asylgesetz) hat das schweizerische Bundesverwaltungsgericht (BVGer) – im Anschluss an sein Referenzurteil vom 22. März 2023 – in bis heute über 140 Urteilen in 2023 die Rechtmässigkeit des Nichteintretens auf das Asylgesuch und der Wegweisung von Personen, die aus Kroatien in die Schweiz eingereist sind, durch das SEM festgestellt.
Die aktuelle Diskussion entzündet sich an einer Ausnahmebestimmung: «Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zu nächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.» (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO). Besondere Brisanz erhält der Artikel vor dem Hintergrund der seit Jahren bekannten menschenunwürdigen Behandlung von Flüchtlingen in Kroatien (unverhältnismässige und menschenverachtende Gewalt der Behörden und zuständigen Personen, Pushbacks, Kollektivausweisungen, Kettenabschiebungen, Verdacht auf Verletzungen des Non-Refoulement Prinzips), die allerdings bis heute von keinem Gericht bestätigt und sanktioniert wurde. Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die von der EU, internationalen Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen und vielen NGO’s dokumentierten und analysierten Zustände eine Anwendung der Ausnahmebestimmung («Überstellungshindernisse») begründen. Das BVGer kommt regelmässig zu einem negativen Urteil. Dagegen wenden sich unter anderem die beiden Reisegruppen mit ihren – im Stil von fact finding missions verfassten – Berichten über Länderwahrnehmungen, Erfahrungen mit staatlichen Institutionen, zivilgesellschaftlichen und kirchlichen Organisationen sowie über ihre persönlichen Gesprächseindrücke.
Die aus den Begegnungen der Delegation von «migrationscharta.ch» in Kroatien gewonnenen Informationen wiederholen die bekannten Fakten: das staatliche Asylsystem und die zivilgesellschaftlichen Institutionen stossen an ihre Kapazitätsgrenzen bei der Unterbringung, Betreuung und medizinischen Versorgung der Flüchteten sowie bei der Bearbeitung der Asylverfahren. Der exponentielle Anstieg von Asylanträgen führt zu gravierenden Zeitverzögerungen. Die Anerkennungsquote sei äusserst gering und «die grosse Mehrheit der Leute (80–95%) [würden] vor einem Entscheid weiterreisen». Eine Rücknahme der knapp tausend Personen aus der Schweiz wäre nach Einschätzung «der beteiligten NGO’s und Kirchenvertreter […] eine massive Überforderung». Die Reisegruppe übernimmt zwar die Forderung, begründet sie aber in ihrer Schlussfolgerung anders: «Da wir systemische Mängel in Bezug auf das Asylverfahren, resp. der entsprechenden Anerkennungsquote und in der medizinischen Betreuung der Asylsuchenden sehen, fordern wir das SEM auf, auf die Asylgesuche der knapp 1000 Geflüchteten einzutreten.» Die Begründung mit den «systemischen Mängeln» irritiert, weil der Bericht darüber keine Auskünfte gibt, resp. das dafür zentrale Thema «pushbacks» ausdrücklich ausklammert. Zwar wird auf Engpässe der medizinischen Versorgung hingewiesen (die gemäss laufender Rechtsprechung nur in Extremfällen eine «systemische Schwachstelle» darstellen), aber anschliessend erwähnt, dass mit finanzieller Unterstützung des SEM eine Übergangslösung gefunden worden sei. Ebenfalls keine systemische Schwachstelle bildet die schleppende Bearbeitung von Asylgesuchen, solange diese tatsächlich geschieht. Schliesslich sagt die Tatsache, dass die meisten Geflüchteten vor einem Asylentscheid weiterreisen, viel weniger über die die Antragsbearbeitung aus, wie der Bericht suggeriert, als über die Unattraktivität von Kroatien als Asylstaat, der deshalb möglichst umgangen oder vermieden wird. Unter dem Strich liefert der Reisebericht keine stichhaltigen Argumente für systemische Schwachstellen im kroatischen Asylsystem, mit denen er seine Kritik an der Abschiebepraxis des SEM begründet.
Die andere Gruppe bereiste Orte in Rumänien, Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie in Kroatien und berichtet über problematische Verhältnisse, vor allem über einen länderübergreifenden Rassismus der Behörden aber auch in der Bevölkerung gegenüber migrierten Personen. Im Bericht wird ein latentes Unwohlsein deutlich, das manchmal in pauschale und stereotype Urteile mündet. Davon sind auch die Religionsgemeinschaften – ausdrücklich erwähnt wird die serbisch-orthodoxe Kirche – nicht ausgenommen. Alle Personen, mit denen die Reisegruppe im umstrittenen bosnischen Camp Lipa an der kroatischen Grenze sprechen konnte, bestätigten, «dass sie bald wieder auf ‹Game› gehen – also ihre Migration in Richtung Mitteleuropa fortsetzen möchten». Ebenfalls erwähnt werden die vielen Geflüchteten, «denen es gelungen ist, Kroatien mit Passierscheinen oder unbemerkt zu durchqueren[, um] in einem anderen EU-Land registriert zu werden». Der Reisebericht endet mit einem sieben Punkte umfassenden Fazit, in dem unter anderem (1.) eine umfassende Berichterstattung über Menschen- und Völkerrechtsverletzungen an den Schengen-Aussengrenzen, (2.) ein Ende des einem Teufelskreis gleichenden «game» der Grenzübertritte, (3.) ein Stopp der Rückführungen aus der Schweiz nach Kroatien, (4.) mehr Solidarität der Schweiz mit der lokalen Bevölkerung auf dem Balkan und (5.) sichere Fluchtwege gefordert werden. Auch beim zweiten Bericht stehen die am Schluss präsentierten Forderungen unverbunden neben den persönlichen Reiserlebnissen. Konkret findet sich im gesamten Text kein Hinweis darauf, welches der in der Balkanregion beobachteten Probleme mit einem Aussetzen der schweizerischen Abschiebepraxis nach Kroatien gelöst würde. Zugleich wird bestätigt, dass die menschenunwürdige Behandlung durch den kroatischen Staat nicht den vorrangigen Grund für eine Weiterreise der Flüchtlinge darstellt. Vielmehr nutzen die meisten Personen Kroatien als Transitland, um in andere Länder, vor allem nach Deutschland und Grossbritannien, zu gelangen. Zweifellos bestätigen die beiden Reiseberichte die zum Teil prekären humanitären und administrativen Zustände in Kroatien und in den angrenzenden Staaten. Aber liefern sie auch Argumente, die die Rückführungspraxis des SEM nach Kroatien rechtlich und politisch in Frage stellen?
Konkret findet sich im gesamten Text kein Hinweis darauf, welches der in der Balkanregion beobachteten Probleme mit einem Aussetzen der schweizerischen Abschiebepraxis nach Kroatien gelöst würde.
Die kroatischen Behörden stehen seit Jahren vor allem wegen ihrer Pushbacks-Praxis in der internationalen Kritik. Der Begriff «Pushbacks» steht gemäss UN-Special Rapporteur on the human rights of migrants als Oberbegriff für alle Massnahmen, Aktionen oder Politiken, die zur Abschiebung von Personen oder Gruppen führen, die auf das Staatgebiet geflüchtet sind, ohne Garantien auf ein ordnungsgemässes Verfahren, das heisst eine individuelle Bewertung ihrer Situation und ihrer Anliegen im Einklang mit den Völkerrechts- und Menschenrechtsverpflichtungen. Pushbacks verweigern Geflüchteten ihre Grundrechte, indem sie ihnen den Zugang zum rechtlich garantierten Schutz sowie zu rechtlich garantierten Verfahren verwehren. Sie können innerhalb und ausserhalb des Hoheitsgebiets eines Staates stattfinden und werden sowohl von staatlichen Akteur:innen (reguläre Polizei und Grenzpolizei, Spezialeinheiten, Militär und Sicherheitsbeamt:innen) als auch in Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteur:innen (nicht identifizierte Paramilitärs, Speditionen, Transportunternehmen und -personal, Schiffseigner:innen, privates Sicherheitspersonal und andere) durchgeführt, die mit Genehmigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln. Einige Staaten führen Pushback-Operationen mit der Duldung und manchmal auch in Zusammenarbeit mit Drittstaaten durch, in die die Geflüchteten gewaltsam abgeschoben werden; in anderen Fällen werden Pushbacks im Geheimen durchgeführt.
Das BGVer bestreitet nicht die kroatischen Pushbacks. Mit «einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit [sei davon] auszugehen, dass in Kroatien unzulässige Abschiebungen an die Grenze sowie unmittelbare Abschiebungen ohne individuelle Prüfung direkt an der Grenze (sogenannte ‹hot returns›) und exzessive Gewaltanwendungen regelmässig vorkommen». Gleichzeitig gibt es zu bedenken, dass «die Meinungen in Bezug auf deren rechtliche Einordnung bisweilen auseinandergehen. Dies namentlich bei der Frage, ob Pushbacks pauschal als illegal zu qualifizieren sind oder nicht». Illegal sind Pushbacks aus Sicht der Richter:innen nur dann, wenn «die gesuchstellende Person um internationalen Schutz ersuchte beziehungsweise zu ersuchen beabsichtigte und/oder sie die Wegweisung einer ernsthaften Gefahr der Verletzung ihrer aus dem Refoulement-Verbot fliessenden Rechte aussetzt», insbesondere wenn «einer im Rahmen von Gruppenabschiebungen auszuschaffenden Person» die Möglichkeit verweigert wird, «individuelle Gründe vorzubringen, welche im Lichte der Garantien der EMRK und der EU-Grundrechtscharta gegen eine Rückführung sprechen, wobei überwiegend das Refoulement-Verbot im Vordergrund stehen dürfte».
Gleichzeitig hält das BVGer fest: «Es besteht die starke Vermutung, dass ein beachtlicher Teil der Schutzsuchenden im Prinzip kein Interesse daran hat, sich in Kroatien einem Asylverfahren zu unterziehen. Die Dublin-III-VO stellt jedoch ein verbindliches Asylverfahrenszuständigkeitssystem dar, welches den Asylsuchenden grundsätzlich keine Wahl lässt, wo ihr Gesuch zu prüfen ist. […] Solange sich migrierende Personen nicht an die offiziellen Behörden wenden, um ein Gesuch um internationalen Schutz zu beantragen beziehungsweise ein entsprechendes Gesuch zurückziehen (allenfalls auch durch Nichtteilnahme an notwendigen Verfahrenshandlungen), halten sie sich unrechtmässig, mithin illegal, im Land auf. Dies rechtfertigt grundsätzlich eine Ausschaffung – unter angemessener Beachtung der Gefahr einer möglichen Verletzung des Refoulement-Verbots. In keiner Weise vermöchte ein illegaler Aufenthalt jedoch die exzessiven Gewalttätigkeiten und menschenverachtenden Handlungen rechtfertigen, von welchen immer wieder berichtet wird.» Die völkerrechtliche Souveränität berechtigt einen Staat, Personen von seinem Staatsgebiet zu entfernen, die sich illegal dort aufhalten. Zwar durchbricht das Flüchtlingsrecht, wie das BVGer-Urteil ausführt, «diese von der Staatssouveränität getragenen Mechanismen insofern, als es den Aufenthalt von Flüchtlingen beziehungsweise von Asylgesuchstellenden auch ohne entsprechende Bewilligung beziehungsweise trotz Fehlens oder Nichtbeachtens der Einreisevoraussetzungen legitimiert […] In diesem Sinne kann in der Beantragung von Asyl ein Rechtfertigungsgrund für die ursprünglich illegale Einreise oder den illegalen Aufenthalt respektive ein provisorischer Schutz vor Rückschiebung erblickt werden […] Die (nachträgliche) Legitimierung einer ursprünglich rechtswidrigen Einreise beziehungsweise eines rechtswidrigen Aufenthaltes setzt freilich voraus, dass die betreffende Person um internationalen Schutz respektive Asyl ersucht, andernfalls ihr Aufenthalt als illegal zu betrachten und damit wiederum die Ausweisung aus dem Staatsgebiet gerechtfertigt ist.»
Die allgemeinen Bemerkungen zu Pushbacks bilden den Hintergrund für die vom Gericht zu klärende Frage, ob auch im konkreten Fall die über Kroatien in die Schweiz eingereiste Person, die zurück nach Kroatien überstellt werden soll, solchen menschenrechtsverletzenden Praktiken ausgesetzt wäre oder sein könnte. In ihrer Antwort schliessen sich die Richter:innen dem Referenzurteil des Bundesverwaltungsgerichts D-1611/2016 vom 22. März 2016 (E. 4.3.5) an: «Probleme seien insbesondere bei Migrierenden auszumachen, welche Kroatien nur als Transitland betrachten würden. Gesuchstellende, welche im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Kroatien überstellt würden, hätten grundsätzlich ohne Probleme Zugang zum dortigen Asylverfahren.» Im Blick auf die kroatischen Pushbacks sei «nicht a priori von einer gleichgelagerten Gefährdung für Dublin-Rückkehrer auszugehen». Bisher gäbe es «keine Berichte beziehungsweise dokumentierte Fälle […], aus denen hervorgeht, dass Dublin-Rückkehrer in Kroatien in rechtswidriger Weise abgeschoben worden wären. Der – angesichts der dargelegten Situation prima vista nicht unbegründete – Verdacht eines Gefährdungszusammenhangs zwischen Pushbacks und Dublin-Rückkehr lässt sich aufgrund der verfügbaren Informationen und Erkenntnisse nicht erhärten. Insofern bestehen zum heutigen Zeitpunkt keine genügenden Anzeichen dafür, die befürchten liessen, Dublin-Rückkehrer würden ohne Eröffnung und Durchführung eines Asylverfahrens aus Kroatien rechtswidrig ausgeschafft. Noch weniger ist aufgrund dieser Ausgangslage davon auszugehen, dass dies systematisch geschehen würde.»
Rechtliche Urteile und Begründungen sind für Nichtjurist:innen häufig schwer verständlich, weil sie ihrer eigenen Logik folgen und von den moralischen Überzeugungen und sozialen Normen im Alltag mehr oder weniger stark abweichen (können). Die Rechtsprechung im Rahmen der Dublin-III-VO funktioniert wie ein Squashspiel, bei dem die Rechtsfälle wie Bälle zwischen den politisch konstruierten Wänden auf dem geschlossenen Squashcourt des Dublin-Systems hin und her geschlagen werden. Entsprechend betont der Bundesrat in seiner Botschaft zur Revision des Asylgesetzes vom 26. Mai 2010: «Das Dublin-System kann nur dann funktionieren und Binnenwanderungen effizient vorbeugen, wenn die Standards im Asylwesen nicht zu stark voneinander abweichen.» Mitspielen kann nur, wer sich im Raum aufhält. Die Spielregeln folgen dem Souveränitäts-, EU- und nationalem Flüchtlings-/Asylrecht sowie den Menschenrechten. Wie für jeden Sport und jedes Spiel gilt auch für das Recht: Die Regeln müssen so aufgestellt sein, dass nach ihnen tatsächlich gespielt werden kann und dass sie allen, die mitspielen wollen, einen regelkonformen Zugang ermöglichen. Flüchtlinge dürfen «illegal» über die Grenze kommen, müssen aber anschliessend ihren Status «legitimieren», indem sie sich den staatlichen Behörden stellen. Der Staat muss umgekehrt garantieren, dass die Flüchtlinge ihre «illegalen» Einreise tatsächlich in einen «legitimen» Aufenthaltsstatus umwandeln können. «Legitim» bedeutet hier, (1.) dass die Grundrechte der geflüchteten Person garantiert sind, (2.) dass sie ihr Recht auf Antrag und Prüfung eines Schutz- oder Asylgesuchs in Rahmen eines offiziellen Verfahrens ausüben kann und (3.) dass sie ihren rechtlichen Verpflichtungen, die mit ihrem Aufenthalt auf dem Staatsgebiet verbunden sind, nachkommt. In der Realität halten sich beide Seiten häufig nicht an die Regeln: Staaten verweigern Flüchtlingen ihre garantierten Rechte, indem sie ihnen den Zugang aufs Spielfeld verwehren. Umgekehrt wollen Flüchtlinge diese Rechte in bestimmten Ländern nicht in Anspruch nehmen und versuchen deshalb, unbemerkt aus dem Spiel herauszukommen. Obwohl damit beide Parteien das Spiel sabotieren, unterscheiden sie sich erheblich durch die Art und Weise ihrer Verweigerung. Während der Staat nicht nur die Spielregeln setzt, sondern auch über Zugang und Ausschluss der Mitspielenden entscheidet, können sich die Geflüchteten nur möglichst unbemerkt dem Spiel entziehen. Während die staatliche Verweigerung kaum Sanktionen zu befürchten hat (obwohl von offiziellen Stellen regelmässig kritisiert, wurde Kroatien bisher von keiner europäischen Behörde sanktioniert), wird das Verhalten der Geflüchteten kriminalisiert und bestraft. Anders als Spielregeln sind Gesetze und Verordnungen mehr oder weniger deutungsoffen und in ihrer Anwendung nicht unabhängig von übergeordneten politischen Strategien. Es gibt kaum einen Rechtsbereich, in dem die juristische Hermeneutik derart von politischen Interessen und Entwicklungen geprägt wird, wie das Asyl- und Flüchtlingsrecht.
Angesichts der prekären Flüchtlingssituation in Kroatien drängt sich die Frage auf, wie die Feststellung von menschenunwürdigen Praktiken mit der Behauptung zusammengeht, dass das kroatische Asylrecht keine systemischen Schwachstellen aufweist, die die Übernahme der Asylverfahren durch Drittländer zur Folge hätten. Die Frage stellt sich umso mehr als der Begriff der «systemische Schwachstelle» ausdrücklich in den Kontext einer «entwürdigenden Behandlung» gemäss Art. 4 GRC (EU-Grundrechtscharta) gerückt wird. Eine «entwürdigende Behandlung» liegt vor, wenn eine Person oder Gruppe «der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen» (Art. 4 GRC) wird oder davon bedroht ist. Das Verbot hat, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) feststellt, «allgemeinen und absoluten Charakter» und schliesst eine Überstellung der antragstellenden Person in einen Mitgliedstaat «in all jenen Situationen aus[…], in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung eine solche Gefahr laufen wird.» Dabei «ist es für die Anwendung von Art. 4 der Charta gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person […] einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren». Daraus ergibt sich für die mit einer Überstellungsentscheidung befassten Gerichte die Verpflichtung, «auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen». Bezeichnenderweise ergänzt das EuGH die «systemischen» um «allgemeine» und «bestimmte Personengruppen betreffende» Schwachstellen, ohne diese wichtige Differenzierung weiter auszuführen. Genauso knapp fallen die Hinweise zu den Beurteilungskriterien aus. Schwachstellen fielen nur dann unter Art. 4 GRC, «wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt».
Auf dem geschlossenen Dublin-Court begegnet der Begriff der systemischen Schwachstelle als eine Art juristischer elephant in the room. Das Problem sind nicht die an vielen Stellen diagnostizierten «Schwachstellen», sondern ihre «systemische» Verankerung. Weil die Dublin-Konstruktion Flüchtlings- und Asylpolitik als Unionsrecht (Art. 267 AEUV [Vertrag über die Arbeitsweis der Europäischen Union]) regelt, wird vorausgesetzt, «dass jeder Mitgliedsstaat mit allen anderen Mitgliedsstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen». «Weil nicht sein kann, was nicht sein darf» – darauf gründet das gegenseitige Vertrauen, «dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten». Weiter leitet das EuGH daraus die Vermutung ab, «dass die Behandlung dieser Antragstellen in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem […] in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge […] und der EMRK steht». Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, «dass dieses System in der Praxis auf grössere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedsstaat stösst», wie die Fälle von Griechenland und Italien in der Vergangenheit gezeigt haben. Aber die politische Konstellation, nicht zuletzt als politischer Rahmen des Rechts, wird durch eine äusserst defensive rechtliche Beurteilung möglicher Systemlecks gestützt. Darin zeigt sich nicht nur das zirkuläre Verhältnis von Politik und Recht, sondern auch ein zwischenstaatlicher Mechanismus, der in seinen Konsequenzen an den bekannten Actionplot vom «good cop» und «bad cop» auf dem gleichen Polizeirevier erinnert.
Das BVGer anerkennt zwar, «dass das Vertrauen in den Dublin-Staat Kroatien erheblich strapaziert ist», stellt aber die Systemkonformität des Mitgliedstaats nicht in Frage. Zur Begründung der eigenen Position verweist das Gericht auf gleichlautende Urteile aus Deutschland und Österreich. Angesichts der Uneinheitlichkeit der deutschen Rechtsprechung bleibt aber unklar und erklärungsbedürftig, warum die schweizerischen Richter:innen in einer von ihnen selbst als hoch ambivalent beschriebenen Beurteilungslage so dezidiert einseitig urteilen. Darüber hinaus stützt das Gericht seine Position mit dem befremdlichen Hinweis, dass «auf politischer Ebene bisher keine einschneidenden Sanktionen gegen Kroatien verhängt» worden seien. Offenbar versteht das Gericht seine Aufgabe nicht darin, politische Entscheidungen kritisch daraufhin zu prüfen, ob sie rechtmässig sind bzw. einen fraglichen Sachverhalt rechtlich angemessen beurteilt haben. Eine wesentliche Aufgabe rechtsstaatlicher Rechtsprechung besteht darin, eine politische Praxis zu sanktionieren, die mit geltendem Recht kollidiert oder zu damit nicht vereinbaren Konsequenzen führt. Deshalb kann ein Gericht seine Entscheidung nicht damit begründen, dass ein anders lautendes Urteil nicht durch die politische – nicht rechtliche (!) – Praxis gedeckt sei. Im Gerichtssaal zählt allein rechtliche Kohärenz. Politische Konformitätserwägungen haben dort nichts zu suchen.
Die Erwägung des BVGer, «dass aufgrund der […] dargelegten Problematik illegaler Pushbacks in Kroatien nicht a priori von einer gleichgelagerten Gefährdung für Dublin-Rückkehrer auszugehen ist», mündet in das abschliessende Urteil, dass «nicht davon auszugehen [ist], das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Kroatien wiesen systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Sätze 2 und 3 Dublin-III-VO auf, die eine Überstellung von Gesuchstellenden generell als unzulässig erscheinen lassen würden. Die […] bestehende Praxis der grundsätzlichen Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen nach Kroatien ist zu bestätigen.» Die Argumentationskaskade beginnt (1.) mit den «systemischen Schwachstellen», die ein Überführungshindernis darstellen können, die anschliessend (2.) als Pushbacks-Risiko diskutiert werden, das zwar generell anerkannt, aber (3.) für überstellte Personen als nicht wahrscheinlich angesehen wird, sodass (4.) Pushbacks für diese Gruppe als systemische Schwachstelle hinreichend ausgeschlossen werden können und deshalb (5.) ein Nichteintreten der Schweiz und – bei Vorliegen eine Rückübernahmezusicherung – ein Wegweisungsvollzug gemäss Art. 31a Abs. 1 lit. a–e AsylG gerechtfertigt ist.
Obwohl die Schweizer Behörden und Gerichte «die Urteile des EuGH – und ggf. des EGMR – in Bezug auf die Dublin-Verordnung zu beachten» haben, legt das BVGer die «systemischen Schwachstellen» sowohl sachlich als auch prozedural restriktiver aus als der EuGH: Sachlich geht es nicht nur um die Bedrohung durch Pushbacks, sondern um das viel weiterreichende «ernsthafte Risiko […], eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren». Prozedural darf sich die gerichtliche Beurteilung nicht nur auf die Verfahrensphase beschränken, vielmehr müssen der «Zeitpunkt der Überstellung», der Zeitraum «während des Asylverfahrens» und die Zeit «nach dessen Abschluss» gleichrangig einbezogen werden. Schliesslich genügt es angesichts der vom Gericht selbst eingehend geschilderten menschenrechtlich prekären Zustände nicht, eine generelle oder «a priori» Gefährdungslage auszuschliessen, weil daraus nicht auf die zukünftige Situation konkreter Personen geschlossen werden kann. Eine deshalb notwendige Einzelfallprüfung im Blick auf die je aktuelle und konkrete Gefährdungssituation findet nur unvollständig statt. Das BVGer erachtet es in seiner Beurteilung des konkreten Falls zwar als «glaubhaft», «dass der Beschwerdeführer in Kroatien Pushbacks erlebt hat», bezweifelt aber die dabei, von der Person behaupteten, erlittenen «Misshandlungen». Die Schlussfolgerung kombiniert zwei Überlegungen. Im ersten Schritt wird das Risiko des Pushbacks systematisch in Frage gestellt. Weil eine «illegal» eingereiste Person, die absichtlich kein Schutz- oder Asylgesuch stellt, ihren «illegalen» Status gar nicht ändern will, stellt ihre Ausweisung ipso facto kein Pushback, sondern eine legale Massnahme des souveränen Staats dar. Im zweiten Schritt wird dann zwar anerkannt, dass die Person Pushbacks erlebt hat, aber die rechtliche Bedeutung dieser Tatsache wird abhängig gemacht von der Schwere der dabei erlittenen «Misshandlungen».
Die Argumentation ist sachlich inkohärent und arbeitet mit einem problematischen Gewaltverständnis. Die legale staatliche Gewaltanwendung bei der Ausschaffung einer sich «illegal» im Land aufhaltenden Person wirft Fragen der Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit auf. Bei Pushbacks geht es dagegen gar nicht um legale oder illegale Formen von Gewalt, weil diese Praxis selbst dann gegen das Völkerrecht verstiesse, wenn dabei keine Gewalt angewendet würde. Die konditionale Begründung des Gerichts im Blick auf die zugefügte Schädigung widerspricht eklatant dem kategorischen Status (absolutes, zwingendes Völkerrecht) von Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK.Unmenschlich und erniedrigend sind die Absichten und das Verhalten der handelnden Personen und nicht (erst) die ein bestimmtes Mass überschreitenden körperlichen und psychischen Folgen für die Opfer. Nach der gerichtlichen Logik müsste auch der irrwitzige Satz gelten: Folter ist akzeptabel, solange sie nicht (allzu sehr) schmerzt.
Der richterliche Fokus auf die Pushbacks blendet andere Formen von Rechtsverletzungen und Gewalt fast vollständig aus. Die Engführung hat nicht zuletzt systemische Gründe, die mit der oben beschriebenen Dublin-Konstruktion zusammenhängen. Tatsächlich beziehen sich die gesetzlichen und gerichtlichen Ausführungen über Wegweisungsvollzugshindernisse auf die Lage in den Herkunftsländern der Geflüchteten und nur in Ausnahmefällen auf die Situation in den Dublin-Staaten. Das Missverhältnis ist der oben beschriebenen, strikten und politisch motivierten Zurückhaltung bei der Feststellung von systemischen Schwachstellen geschuldet. Die durch Art. 4 GrC/Art. 3 EMRK pönalisierte unmenschliche und erniedrigende Strafe oder Behandlung bezeichnen Angriffe auf die physische und psychische Integrität der Person, die auf ihre Demütigung und Herabsetzung zielen. «Unter ‹Strafe› ist nicht nur die Haftstrafe, sondern jede Massnahme mit Sanktionscharakter zu verstehen, während die ‹Behandlung› alle Formen hoheitlichen Handelns und Unterlassens umfasst.» Und im Rahmen der Vollzugshindernisse erwähnt Art. 83 Abs. 3 Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) ausdrücklich auch «Drittstaaten»: «Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunfts- oder in einen Drittstaat entgegenstehen.» Die Bereitschaft der europäischen Regierungen und Gerichte, Gewalt gegenüber Geflüchteten in den Dublin-Staaten wahrzunehmen, zu pönalisieren und zu bekämpfen, ist nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden.
Im Blick auf die biblische Botschaft stehen die westeuropäischen Kirchen notorisch auf der falschen Seite. In der Regel lebten die Protagonist:innen der Bibel in prekären Verhältnissen und erhielten Aufenthalt, Schutz oder Asyl in der Fremde. Nur in Ausnahmefällen verfügten sie selbst über das Privileg, Aufenthalt, Schutz oder Asyl zu gewährten. Westeuropäische Kirchenmitglieder gehören dagegen grossmehrheitlich auf die Seite der Privilegierten, mit denen sich Menschen, denen es ähnlich ergeht, wie den Bewohner:innen der biblischen Geschichten, arrangieren müssen. Deshalb hängt die jüdische Reziprozitätsforderung «Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.» (Dtn 10,19) für die meisten Mitglieder unserer Kirchen in der Luft. Sie waren niemals in der Fremde, es sei denn als Tourist:innen.
Deshalb hängt die jüdische Reziprozitätsforderung «Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.» (Dtn 10,19) für die meisten Mitglieder unserer Kirchen in der Luft. Sie waren niemals in der Fremde, es sei denn als Tourist:innen.
Das führt zu Rollenkollisionen, wie die Kroatien- und Balkantourist:innen zeigen. Im ersten Bericht über das Asylzentrum Porin in Zagreb wird darauf hingewiesen, dass die Flüchtlinge aufgrund der hohen Fluktuation «selber dafür zuständig [seien], ihre Zimmer sauber zu halten». Der zweite Bericht beklagt den verbreiteten Rassismus in Rumänien und Serbien sowie die saudi-arabische und türkische Propaganda im muslimischen Teil von Bosnien und Herzegowina. Anschliessend äussert er Verständnis für den Wunsch der Flüchtlinge im Camp Lipa, weiter nach Westeuropa zu reisen, weil «es doch an diesem Ort, der sich mehrere Stunden Fussmarsch von der nächsten Stadt befindet, ausser genug Nahrung und einem Dach über dem Kopf keinerlei Perspektive» gäbe, und deutet die Inkaufnahme lebensgefährlicher Fluchtrouten als Ausdruck der unzerstörbaren «Hoffnung» der Geflüchteten. Die tragische Komik zwischen Roomservice und Destinationswahl dekonstruiert einen Standpunkt, der sich in einem Bevölkerungsbashing äussert und nicht in der Lage ist, zwischen Verzweiflung und Hoffnung und zwischen einem frei gewählten Reiseziel und der irrwitzigen Flucht vor dem heimatlichen Horror zu unterscheiden. Dass die Lebensverhältnisse in der Schweiz als Referenznorm behauptet werden, mag noch als Naivität durchgehen, nicht aber die pauschalen Negativurteile über die Bevölkerungen in den Aufnahme- und Durchreiseländern, die nur dazu dienen, der eigenen Forderung nach einem Rückführungsverbot der aus Kroatien in die Schweiz gekommenen Flüchtlinge Nachdruck zu verleihen.
Menschen fliehen nicht aus moralischen Gründen, sondern aus nackter Angst um das eigene Leben, aus verzweifelter Sorge um das Leben der Familie und aufgrund der ausweglosen Lage in der Heimat. Flüchtlinge sind genauso wenig moralischer, weil sie ihre Heimat verlassen mussten, wie die Menschen in den Zufluchtsländern unmoralischer, weil sie sich in ihrer Heimat schwer mit den einreisenden Personen und Gruppen tun. Geflüchteten hilft keine moralische Empörung, sondern rechtsstaatliches Recht und staatliche Institutionen, die konsequent für seine Einhaltung eintreten, um die Wahrnehmung und Durchsetzung ihrer fundamentalsten Rechte zu garantieren. Allerdings bleibt auch diese menschenrechtliche Forderung ethisch fragwürdig, solange sie als «Bürde der Stärkeren» auftritt, «die die ambivalente Struktur der befähigenden Verletzung besitz[t], die jede gutmeinende Person mit der Bürde des weissen Mannes assoziiert». Dahinter steht die Vorstellung, dass das «Richten von Unrecht» (Spivak) das Monopol früher einer ökonomisch, kulturell oder religiös, heute einer moralisch privilegierten Instanz oder Gruppe darstellt. Der Philosoph Rüdiger Bittner hat diese Unterstellung eines normativen Privilegs als Verwüstung durch Moral beschrieben. «Moral ist anziehend und verwüstend, durch das Sprechen von oben herab. Das ist anziehend, weil man mit solchem Sprechen gültige, von Reaktionen und Affekten unabhängige Urteile fällen kann, was hätte geschehen sollen, was nicht. Das ist verwüstend, weil es ein Urteilen von aussen ist, vor dem das Leben der Beteiligten zum blossen Objekt wird.»
Menschen fliehen nicht aus moralischen Gründen, sondern aus nackter Angst um das eigene Leben, aus verzweifelter Sorge um das Leben der Familie und aufgrund der ausweglosen Lage in der Heimat.
Dagegen richtet sich die postkolonialistische Gretchenfrage: Wer spricht? Wer hat die «vierzehn interessierten Personen» beauftragt, die «kirchlichen Behörden» über die Flüchtlingssituation in Osteuropa aufzuklären und wer hat die «Delegation des Netzwerks migrationscharta.ch» autorisiert, kirchliche Forderungen an das SEM zu adressieren? Wer spricht, in welchem Auftrag, für wen? Die Frage wer spricht? variiert die ursprüngliche theologische Zumutung, dass auf den Doppelpunkt in der biblischen Phrase «Und Gott sprach:» immer menschliche Wörter folgen. Weil anstelle des deklarierten Subjekts notorisch andere sprechen, erhält die Frage nach der Autorisierung des Gesprochenen fundamentale Bedeutung. «Zitieren» ist auch ein Machtspiel und das «Berufen auf …» eine hoch riskante und ambivalente Form von Selbstvergrösserung. Das mater-/paternalistische, stellvertretende und anmassende Sprechen «anstelle» oder «im Namen» von anderen adaptiert nicht nur deren Äusserungen, sondern setzt sich an die Stelle der anderen und bringt sie kommunikativ zum Verschwinden. Dagegen hatte bereits Hiob in der Auseinandersetzung mit seinen Freunden proto-postkolonialistisch protestiert: «Ertragt es, dass ich rede, [...] Wendet euch zu mir und erstarrt und legt die Hand auf euren Mund!» (Hi 21,3a.5). Während Kirchen und Theologien in der Vergangenheit die biblische Botschaft moralisierten, um sie politisch zu neutralisieren, dient heute die gleiche Moral dazu, sie politisch zu banalisieren. Gleich geblieben ist der Anspruch der moralischen Wortführer:innen, Richter:innen in eigener Sache zu sein. Die indisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak beschreibt diesen Mechanismus als «subalternistischen Essentialismus im positiven wie im negativen Sinne […]. Während die Selbsterlaubnis, weiterhin Unrecht zu richten, implizit auf der ersten Vorstellung beruht – sie werden niemals in der Lage sein, sich selbst zu helfen –, nährt letztere falsche Hoffnungen, die mit Sicherheit zerschlagen werden und zum gleichen Ergebnis führen: der unfreiwilligen Schlussfolgerung, dass sie immer Beistand brauchen werden. In der gegenwärtigen Weltlage (vielleicht aber auch immer und überall) in der Verantwortung im Süden einfach mit Rechenschaftsberichten gleichgesetzt und immer nur der Grad der Aussenbestimmtheit überprüft wird, ohne dass eine langfristige Ausbildung ‹ohne Garantie› stattfände, reproduzieren und verstärken wir tatsächlich das, was ‹Feudalismus› genannt werden muss.» Tatsächlich begegnet in den aktuellen flüchtlings- und asylpolitischen Debatten eine antagonistische Instrumentalisierung der Menschenrechte: sie dienen gleichzeitig als Blankolegitimation der Interessen der einen Seite und zur Pauschaldiskreditierung der Interessen der anderen Seite. Das Auswechseln der Rechtssubjekte bedient die alten Muster ebenso wie die Selbstermächtigung der Richter:innen in eigener Sache, die weiterhin bestimmen, wer wohin gehört.
Text im Original mit Fussnoten und Quellenangaben:
Ein weiterer Beitrag von Frank zu diesem Thema ist bereits hier erschienen: https://www.evrefblog.ch/todesregatten-oder-leichtsinn-als-der-normalfall/
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